Gegen Ende der Vorstellung, die ich mir nicht ansehen konnte – ich hatte mich kurz auf einer Parkbank ausruhen wollen, und dort hatte ich geschlafen bis in den frühen Abend –, stand ich vor dem Theater. Die Leute kamen gerade heraus. Ich suchte nach der Kantine. Lindemann saß vorgebeugt an einem Tisch, löffelte Suppe und sah irritiert auf, als ich mich zu ihm setzte.
«Mein Name ist Iwan Friedland. Geben Sie ein Interview? Für Oxford Quarterly?» Ich wusste nicht, ob es ein Oxford Quarterly gab, aber es war die Zeit vor dem Internet, man konnte Dinge schwer überprüfen.
Er hatte sich äußerlich nicht verändert, seine Brillengläser spiegelten, in seiner Brusttasche steckte das grüne Tuch. Als ich begann, ihm Fragen zu stellen, bemerkte ich, wie schüchtern er war. Ohne Scheinwerfer und Publikum schien er verloren in seiner Unsicherheit. Er rückte seine Brille zurecht, lächelte verkrampft und fasste sich immer wieder tastend an den Schädel, als wollte er sich vergewissern, dass die wenigen verbliebenen Haare noch an ihrem Platz waren.
Bei der Hypnose, sagte er, handle es sich nicht um ein einzelnes Phänomen, sondern um eine Vielzahl davon: die Bereitschaft, sich einer Autorität zu fügen, eine allgemeine Schwäche, eine generelle Offenheit für Suggestionen. Nur selten wirkten noch rätselhaftere Mechanismen des Bewusstseins hinein, noch nicht erforscht, weil keiner sie erforschen wolle. All das führe dazu, dass man die oberflächliche Kontrolle über den eigenen Willen für kurze Zeit verliere.
Er bekam einen Hustenanfall, Suppe rann ihm übers Kinn.
Er sage ‹oberflächlich›, erklärte er dann, weil sich normalerweise nichts, was ein Mensch nicht zu erleben oder zu tun wünsche, durch Trance in ihn hineinzwingen lasse. Nur selten lasse sich in einer Seele etwas Profundes in Bewegung setzen.
Ich fragte, was er damit meine, aber er war in Gedanken schon anderswo und begann, sich zu beschweren. Er klagte über die geringen Gagen, er klagte über die Arroganz der Fernsehredakteure. Er klagte über eine Sendung, aus der sein Auftritt herausgeschnitten worden war. Er klagte über die Gewerkschaft der Bühnenkünstler, er klagte besonders über deren Pensionskasse. Er klagte über die vielen Eisenbahnreisen, die Verspätungen, die dilettantisch organisierten Fahrpläne. Er klagte über schlechte Hotels. Er klagte über gute Hotels, weil sie zu teuer seien. Er klagte über dumme Leute im Publikum, über betrunkene Leute im Publikum, über aggressive Leute im Publikum, über Kinder im Publikum, über Schwerhörige im Publikum, über Psychopathen. Es sei erstaunlich, wie viele Psychopathen in eine Hypnosevorstellung kämen. Dann klagte er von neuem über die Gagen. Ich fragte, ob er noch etwas essen wolle, das Oxford Quarterly bezahle, und er bestellte Schnitzel mit Pommes frites.
«Noch einmal zurück», sagte ich. «Die Mechanismen des Bewusstseins.»
Richtig, sagte er. Rätselhafte Mechanismen, ja, das habe er gesagt. Rätselhaft auch für ihn, obwohl er so viel gesehen habe. Aber er sei ja kein Intellektueller und nicht imstande, Erklärungen zu geben. Er sei wider Willen in dieses Metier geraten, gelernt habe er ganz andere Dinge.
«Und zwar? Was haben Sie gelernt? Welche anderen Dinge?»
Die Kellnerin brachte das Schnitzel. Er fragte, wie mir die Vorstellung gefallen habe.
«Sehr beeindruckend.»
«Sie brauchen nicht zu schwindeln.»
«Sehr beeindruckend!»
Nicht groß genug, sagte er, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er das Schnitzel meinte. Für die Größe zu teuer. Aber teuer sei ja alles heutzutage, der kleine Mann werde ständig ausgenommen.
Ich fragte, ob es wenigstens gut schmecke, das Schnitzel.
Zu dick, sagte er. Ein Schnitzel gehöre flach geklopft, warum wisse das keiner mehr? Er zögerte, bevor er fragte, wo mein Tonbandgerät sei.
«Ich habe ein gutes Gedächtnis.»
Gedächtnis sei ein überschätztes Phänomen, sagte er kauend. Ganz und gar erstaunlich, wie leicht es sei, ihm falsche Erinnerungen einzugeben, und wie leicht auch, Erinnerungen spurlos zu löschen. Wirklich kein Tonbandgerät?
Um das Thema zu wechseln, bot ich ihm Nachtisch an, er bestellte Sachertorte. Dann legte er den Kopf schief und erkundigte sich, ob das Oxford Quarterly eine Studentenzeitung sei.
«Es wird weithin gelesen.»
«Was studieren Sie, junger Mann?»
«Kunstgeschichte. Aber ich bin Maler.»
Er blickte auf den Tisch. «Wir haben uns schon einmal gesehen?»
«Ich glaube nicht.»
«Nein?»
«Ich wüsste nicht, wo.»
«Maler», wiederholte er.
Ich nickte.
«Maler.» Er lächelte.
Ich fragte ihn, wie groß der Einfluss sei, den ein Hypnotiseur auf Menschen nehmen könne. Könne man jemanden dazu bringen, sein Leben zu ändern? Dinge zu tun, die er nie getan hätte, wäre er nicht hypnotisiert worden?
«Jeder kann jeden dazu bringen, sein Leben zu ändern.»
«Aber man kann Menschen nicht dazu bringen, etwas zu tun, das sie nicht tun wollen?»
Er zuckte mit den Schultern. Unter uns gesagt, was heiße das eigentlich, etwas wollen oder nicht. Wer wisse schon, was er wolle, wer sei im Reinen mit sich. Man wolle so viel und jeden Moment etwas anderes. Natürlich sage man den Zuschauern zu Beginn, dass niemand zu etwas gebracht werden könne, das er nicht ohnehin zu tun bereit sei, aber die Wahrheit sei: Jeder sei fähig zu allem. Der Mensch sei offen, sei ein Chaos ohne Grenze und feste Form. Er blickte sich um. Wieso in aller Welt brauche die Torte so lange, die müsse doch nicht erst gebacken werden!
Ich sei kein Chaos ohne Grenzen, sagte ich.
Er lachte.
Die Kellnerin brachte die Torte, und ich bat ihn, Anekdoten zu erzählen. Während seines erfolgreichen Berufslebens habe er sicher manches erlebt.
Erfolgreich? Nun ja. Früher, in der großen Zeit der Varietés, in der Epoche von Houdini und Hanussen, habe ein Hypnotiseur noch erfolgreich sein können. Aber in Tagen wie diesen! Ein Leben für die Kunst lasse sich schlecht auf Anekdoten reduzieren.
«Hypnose ist eine Kunst?»
Vielleicht sei sie sogar mehr. Vielleicht leiste sie immer schon, was die Kunst erst erreichen wolle. Alle große Literatur, alle Musik, alle … Er lächelte. Alle Malerei bemühe sich, hypnotisch zu wirken, nicht wahr? Er schob den Teller weg. Er müsse jetzt schlafen gehen, ein Auftritt sei anstrengend, danach sei man zum Umfallen müde. Er stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter. «Maler?»
«Bitte?»
Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, es war nichts Verbindliches mehr darin. «Maler – wirklich?»
«Ich verstehe nicht.»
«Ist auch egal. Ist nicht wichtig. Aber meinen Sie das ernst? Maler?»
Ich fragte, was er damit sagen wolle.
Nichts. Er sei müde. Er müsse sich hinlegen. Er blickte um sich, als wäre ihm ein Gedanke gekommen, dann murmelte er etwas, das ich nicht verstehen konnte. Klein und schwächlich sah er aus, blass sein Gesicht, die Augen waren nicht zu erkennen hinter den dicken Gläsern. Er hob grüßend die Hand und ging mit kleinen Schritten zur Tür.
Erst auf der Fähre über den Kanal wurde mir klar, dass ich seine Stimme nicht mehr aus dem Kopf bekam. Maler, wirklich? Noch nie war ich so tiefem Zweifel begegnet, nie einer solchen Intensität von Skepsis und Spott.
Kurz darauf, zurück in Oxford, erschien er mir so deutlich im Schlaf, dass es mir bis heute vorkommt, als wäre ich ihm insgesamt dreimal begegnet. Wieder war es in einer Theaterkantine, aber in meinem Traum hatte sie die Ausmaße einer Kathedrale. Lindemann stand auf dem Tisch, und sein Lächeln war zu einer derartigen Grimasse verzerrt, dass ich ihn kaum ansehen konnte.
«Ich vergesse nichts.» Er kicherte. «Kein Gesicht und keinen Menschen, der bei mir auf der Bühne war. Dachtest du wirklich, ich weiß es nicht mehr? Armes Kind. Und du glaubst, du hast es in dir? Die Kunst. Das Malen. Die Schöpferkraft. Glaubst du das wirklich?»