Selbstverständlich liegt es in der Natur einer Wette, dass man sie verlieren kann. Aber wenn es einem wirklich passiert – belügt man sich dann, oder kann man sich ehrlich damit abfinden? Wie macht man es, stolz seine kleinen Ausstellungen vorzubereiten, seine beschränkten Anerkennungen zu sammeln und es für naturgegeben zu halten, dass es weit über einem eine Welt des Gelingens gibt, an der man keinen Anteil hat? Wie richtet man sich ein?
«Schreib über die Mittelmäßigkeit.» Es war Martins Idee gewesen, damals im Klostergarten von Eisenbrunn. Und er hatte recht: Ich konnte immerhin ein Kunsthistoriker mit ungewöhnlichem Forschungsgebiet werden. So schrieb ich einen Brief an Heinrich Eulenböck. Ich log nicht, aber ich erwähnte auch nicht den Titel meiner Dissertation: Mediokrität als ästhetisches Phänomen. Ich schilderte nur, wie ich durch Zufall seine Bilder in einem alten Katalog entdeckt hatte: flämische Bauernhäuser, sanfte Hügel, freundliche Flussgestade und Heuballen, wirklich gut gemalt, kraftvoll und nicht ohne Seele. Das ist es, hatte ich gedacht, was aus mir geworden wäre. Dieses verstockte Könnertum, diese in sich selbst eingeschlossene Perfektion. Das wäre meine Zukunft gewesen. Das wäre ich.
Er antwortete erfreut, und ich machte mich auf den Weg. Ich war erschöpft, denn ich hatte eine kurze Affäre mit einem französischen Choreographen hinter mir, eine Affäre voller Leidenschaft, Streit, Gebrüll, Alkohol, Trennung, Versöhnung und neuer Trennung, und eine Reise kam gerade recht. Eine lange Fahrt mit dem Zug, eine lange Fahrt mit einem anderen Zug, dann eine Überfahrt mit der Fähre, dann eine lange Fahrt mit einem Bus, bis ich ihm endlich in seinem hellen Studio gegenüberstand. In den Fenstern schimmerte der nördlich-kühle Glanz des Meeres.
Er war damals Anfang sechzig und stattlicher, als ich es erwartet hatte, ein eleganter Herr mit weißem Schnurrbart, gepflegter Kleidung und Elfenbeinstock, witzig, gelassen und kultiviert. Ich hatte geplant, am nächsten Tag wieder abzureisen, aber ich blieb. Ich blieb auch den Tag darauf und noch einen Tag und die ganze Woche und das ganze Jahr und das Jahr darauf. Ich blieb bis zu seinem Tod.
Die Lichter der U-Bahn schrumpfen, werden zu einem einzigen Fleck und verlöschen. Die Schönheit braucht keine Kunst, sie braucht auch uns nicht, sie braucht keine Betrachter, im Gegenteil. Gaffende Leute nehmen ihr etwas weg, am hellsten flammt sie, wo keiner sie sieht: weite Landschaften ohne Häuser, die Wolkenspiele des frühen Abends, das verwaschene Rotgrau alter Ziegelmauern, kahle Bäume im Winternebel, Kathedralen, das Abbild der Sonne in einer Ölpfütze, die Spiegeltürme der Insel Manhattan, der Blick aus einem Flugzeugfenster, kurz nachdem man durch die Wolkendecke gestoßen ist, die Hände alter Menschen, das Meer zu jeder Tageszeit und menschenleere U-Bahn-Stationen wie diese – das gelbe Licht, das Zufallsmuster der Zigarettenstummel auf dem Boden, die abblätternden Plakate, noch immer flatternd im Fahrtwind, obwohl der Zug schon lange verschwunden ist.
Die Rolltreppe trägt mich hinauf, die Straße ordnet sich um mich, hoch oben errichtet sich das Gewölbe des Sommerhimmels. Ich blicke in alle Richtungen – nicht nur aus Vorsicht, denn es ist eine gefährliche Gegend, sondern weil wir nun einmal auf der Welt sind, um zu sehen. Die Mülltonnen werfen ihre kurzen Mittagsschatten, ein Kind zieht auf einem Skateboard vorbei, die Arme ausgebreitet, zugleich schwebend und in ständig aufgehaltenem Fall. Derselbe Lichtstrahl blitzt weit oben in einem Fenster und hier unten im Rückspiegel eines geparkten Autos. Das dunkle Viereck eines Kanaldeckels, ganz Klarheit und Muster, hoch darüber, wie mit Absicht dagegengesetzt, die zerfließende Vagheit einer Wolke. Schnell schließe ich eine Tür auf, gehe hinein und schließe hinter mir ab. Eine alte Liftkabine trägt mich rumpelnd von Stockwerk zu Stockwerk ins Dachgeschoss. Nur im zweiten Stock gibt es ein selten benutztes Warenlager, der Rest des Hauses steht leer. Der Lift hält quietschend, ich steige aus und öffne eine Stahltür. Sofort umfängt mich der Duft von Acryl, Holz und Leim, das reiche Aroma der Pigmente. Wie gut, wenn man arbeiten darf. Manchmal kommt mir der Verdacht, ich könnte ein zufriedener Mensch sein.
Niemand weiß von diesem Studio, niemand kann mich damit in Verbindung bringen. Nicht ich habe es gekauft, sondern eine Firma, die einer anderen Firma gehört, die ihren Sitz auf den Cayman Islands hat und wiederum mir gehört. Wenn einer im Grundbuch nachsähe, er fände meinen Namen nicht. Man müsste sehr viel Zeit und Mühe aufwenden, um bis zu mir vorzudringen. Grundsteuer sowie Heiz-, Wasser- und Stromkosten werden automatisch von einem Nummernkonto in Liechtenstein eingezogen. Vor mich hin pfeifend, hänge ich meine Jacke auf, kremple die Ärmel hoch und ziehe den Kittel an. An der Wand stehen ein Dutzend Gemälde, abgedeckt mit Tuch, davor ein fast fertiges Bild auf der Staffelei.
Zum Glück brauche ich keine Brille, meine Augen sind scharf wie eh und je. Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt. Also stehe ich vor dem Bild und betrachte es. Ein Dorfplatz in einer französischen Kleinstadt. Im Zentrum eine grellbunte Plastik, offensichtlich von Niki de Saint Phalle: eine übergroße bunte Frauenfigur streckt ihre Arme empor. Der Himmel ist wolkenlos, am Rand des Platzes stehen Kinder mit Fahrrädern um einen kleinen Jungen, der den Kopf in die Hände stützt und weint. Eine Frau blickt aus einem Fenster, ihr Mund steht weit offen, sie ruft jemanden. Aus einem abgestellten Auto sieht ein Mann drohend zu ihr hinauf. Am Rand des Platzes gibt es eine dunkle Pfütze, die womöglich, aber vielleicht auch nicht, ein Blutfleck ist, daraus trinkt ein Dackel. Irgendetwas Schreckliches ist passiert, und die Leute scheinen es verheimlichen zu wollen. Würde man ein wenig länger hinsehen, ein wenig besser nach Spuren suchen, man könnte darauf kommen; das glaubt man wenigstens. Aber tritt man zurück, verschwinden die Details, und es bleibt nur eine bunte Straßenszene: hell, lebendig, heiter. Großflächige Plakate werben für Bier, für einen Streichkäse, für Zigarettenmarken im Stil der frühen siebziger Jahre.
Ich arbeite schweigend, manchmal höre ich mich pfeifen. Nur ein paar Kleinigkeiten fehlen noch. Die Stille des Ateliers umgibt mich wie eine feste Substanz. Der Lärm der Stadt dringt nicht herauf, auch die Hitze scheint ausgesperrt. So kann es sehr lange gehen. Wenn ich danach an die Stunden der Arbeit zurückdenke, habe ich kaum Erinnerungen daran – als hätte die Konzentration alles ausgelöscht.
Hier oben noch ein paar Lichtspitzen, da unten ein Schatten und die Gesichtszüge dieses Kindes eine Spur verwischen. Das Nummernschild braucht einen Rostfleck. Man soll die Pinselstriche sehen können, dick und altmeisterlich! Und dann der letzte helle Punkt, ein Akzent aus Weiß, Ocker und Orange. Ich trete zurück, hebe die Palette, nehme ein wenig Schwarz und setze mit schnellem Zug Jahreszahl und Signatur in die Ecke: Heinrich Eulenböck, 1974.
Als ich jung war, eitel und ohne Erfahrung, hielt ich die Kunstwelt für korrupt. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Die Kunstwelt ist voller liebenswürdiger Menschen, voller Enthusiasten, voll von Sehnsucht und Wahrhaftigkeit. Es ist die Kunst selbst, als heiliges Prinzip, die es leider nicht gibt.
Es gibt sie ebenso wenig wie Gott, wie das Ende der Zeiten, die Ewigkeit und die himmlischen Heerscharen. Es gibt nur Werke, unterschiedlich in Machart, Form und Wesen, und es gibt das Sturmgeflüster der Meinungen über sie. Wechselnde Namen gibt es, die man je nach Zeitstimmung an ein und denselben Gegenstand heftet. Von so manchem Bild Rembrandts, das lange als Höhepunkt der Malerei galt, wissen wir jetzt, dass nicht Rembrandt es gemalt hat. Ist es darum schlechter?
«Natürlich nicht!», rufen Laien eilfertig aus, aber so einfach ist das auch wieder nicht. Ein und dasselbe Bild ist nicht dasselbe, wenn es von einem anderen stammt. Ein Werk ist eng verknüpft mit unserer Vorstellung davon, wer es wann, warum und aus welcher Not in die Welt gebracht hat. Ein Schüler, der alle Fertigkeiten seines Lehrers erworben hat und nun malt wie er, bleibt dennoch ein Schüler, und wären die Bilder van Goghs von einem wohlhabenden Herrn eine Generation später gemalt worden, man schriebe ihnen nicht den gleichen Rang zu. Oder etwa doch?