Nie habe ich jemanden besser eine Rolle spielen sehen. «Warhol? Ein Werbegraphiker!» – «Lichtenstein? Das Land oder der Scharlatan?» – «Kitschiger als Balthus ist nur der Katzenkalender.» – «Klimt, die Apotheose des Kunsthandwerks!» Solche Sätze gefielen jedem. Er wiederholte sie in Dutzenden Zeitungsinterviews, er wiederholte sie im Fernsehen, er wiederholte sie, als er seine Ausstellungen eröffnete, er wiederholte sie bei der Präsentation von Leroy Hallowans’ Buch Eulenböck oder Die große Verneinung, und er wiederholte sie wörtlich, zuverlässig und ohne Abänderung, in Godards kurzem Dokumentarfilm Moi, Eulenböck, maître.
«Und wann lassen wir es auffliegen?», fragte ich.
«Vielleicht noch nicht.»
«Jetzt wäre ein guter Moment.»
«Schon möglich, aber …»
Ich wartete, doch er sagte nichts weiter. Wir saßen in einem Pariser Restaurant, und wie schon oft in letzter Zeit sah ich seine Hand zittern; der Suppenlöffel kam immer wieder leer bei seinen Lippen an. Offenbar hatte er vergessen, worüber wir gerade noch gesprochen hatten.
Dann erschien meine Dissertation. Ich hatte das Thema gewechselt, nun lautete der Titel Heinrich Eulenböck: Von der Ironie der Tradition zum Realismus der Ironie. Auf 740 Seiten erörterte ich die Geschichte eines einsamen Spötters und spät geborenen Meisters aller Techniken der abendländischen Malerei, der erst im Alter künstlerisch zu sich selbst gefunden hatte.
Ich musste natürlich auch die Bauernhäuser loben. Inzwischen hatten ja auch sie ihre Anhänger gefunden: Einigen Sammlern galten sie als Beweis, dass schlichte Schönheit noch nicht passé war, anderen als hintergründige Satire. Ich diskutierte ausführlich beide Möglichkeiten und vermied es, mich festzulegen: Der Reichtum liege in der Ambivalenz, also darin, dass der Künstler die Ironie ironisiere und den Spott verspotte, unterwegs zu einem im Hegel’schen Sinn aufgehobenen Pathos.
«Wann lassen wir es auffliegen?», fragte ich wieder.
Wir waren in einem Hotelzimmer in London, Regen trommelte ans Fenster, das Frühstück stand unberührt auf dem Schiebetisch des Zimmerservice, und im Fernsehen nahm Saddam Hussein eine Parade ab. Heinrichs Elfenbeinstock lehnte an der Wand, daneben die silberne Krücke, die ich ihm kurz zuvor geschenkt hatte – zum Gehen brauchte er inzwischen nicht mehr einen Stock, sondern zwei.
«Du bist so jung. Du verstehst nichts.»
«Was verstehe ich nicht?»
«Du kannst das nicht verstehen.»
«Aber was denn?»
Ich starrte ihn an. Ich hatte noch nie einen Erwachsenen weinen sehen, ich war verblüfft, das hatte ich nicht erwartet. Sicher, ich hatte gewusst, dass er nie mehr den Schritt zurück würde machen können, aber was war so schlimm daran? Beim besten Willen, ich verstand nicht.
Er hatte recht gehabt. Ich war wirklich noch sehr jung.
Ein halbes Jahr nachdem Heinrich entschieden hatte, der Maler zu bleiben, für den man ihn hielt, weiterhin auszustellen, Interviews zu geben, Bilder zu verkaufen und berühmt zu sein, kam mein Vater zu Besuch.
Wir gingen im Studio unserer Arbeit nach. Ich saß vor meinem neuen PC und schrieb an dem Aufsatz Realismus als Ideologiekritik bei Heinrich Eulenböck, während Heinrich mit zitternder Hand auf seinem Skizzenblock strichelte. Das konnte er stundenlang tun, und manchmal kamen dabei noch Zeichnungen heraus. Da läutete das Telefon, und Arthur, ohne mir zu erklären, wie er an diese Nummer gekommen war, sagte, dass er in der Nähe sei und jetzt vorbeikommen könne.
«Jetzt?»
«Ja.» Wie immer klang er überrascht darüber, dass mich das überraschte. «Kein guter Moment?»
Als er eine halbe Stunde später auf der Türschwelle stand, schien er mir müde und abgekämpft zu sein, er schwitzte und war schlecht rasiert. Heinrich begrüßte ihn mit den Gesten des Grandseigneurs, sagte: «Willkommen!», und: «Viel gehört habe ich von Ihnen», und: «Welche Ehre, welche Freude», worauf mein Vater mit verhalten-ironischer Höflichkeit reagierte. Wir setzten uns zu Tisch, die Haushälterin stellte eilig in der Mikrowelle gewärmtes Essen vor uns hin. Arthurs Augen blitzten, während Heinrich über Warhol – «ein Werbegraphiker!» –, Lichtenstein, Beuys und Kaminski sprach. Leider hatte er sich angewöhnt, die gut eingeübten Interviewsätze auch dann von sich zu geben, wenn kein Mikrophon in der Nähe war. Er beschrieb ausführlich seine Begegnung mit Picasso, und ich, der ich wusste, dass er Picasso nie getroffen hatte, musste aufstehen und hinausgehen, um ihn nicht zu unterbrechen.
Als ich zurückkam, beschrieb er gerade die Vernissage, die sein New Yorker Galerist Warsinsky zuletzt für ihn veranstaltet hatte: wer da gewesen sei, was die Kritiker geschrieben hätten, welche Bilder für wie viel verkauft worden seien. Sein Schnurrbart wippte, seine Unterlippe zitterte, und wann immer er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, klopfte er auf den Tisch.
Um das Thema zu wechseln, fragte ich Arthur, woran er zurzeit arbeite. Ich wusste, dass er die Frage nicht mochte, aber es war doch immer noch besser, als Heinrich zuzuhören.
«Wird wahrscheinlich wieder ein Krimi. Ein klassisches Locked Room Mystery. Für Leute, die Rätsel mögen.»
«Gibt es denn eine Auflösung?»
«Aber ja! Es wird sie nur keiner bemerken. Sie ist gut versteckt.»
«Ist das eigentlich auch in Familie so?»
«Nein. In dieser Geschichte ist die Auflösung wirklich die, dass es keine versteckte Auflösung gibt. Keine Erklärung und keinen Sinn. Genau darum geht es.»
«Aber genau das stimmt doch nicht! Oder vielmehr stimmt es nur, wenn man es so erzählt, dass es stimmt. Jedes Dasein, vom Ende her gesehen, besteht aus Schrecken. Jedes Leben wird zur Katastrophe, wenn man es auf so eine Art zusammenfasst, wie du es machst.»
«Weil das die Wahrheit ist.»
«Nicht die ganze. Nicht ausschließlich. Nachmittage wie heute, Orte wie dieser …» Mit unbestimmter Geste zeigte ich auf das Fenster, das Meer, unseren Tisch, auf ihn, auf mich, auf Heinrich. «Alles vergeht, aber das heißt noch lange nicht, dass es Glück nicht gibt. Glück ist sogar die Hauptsache. Es kommt auf die Momente an, die guten Momente. Für sie lohnt es sich.»
Arthur setzte zu einer Entgegnung an, aber Heinrich kam ihm zuvor. Er habe eine Frage. Wie dieser Unsinn denn bitte gemeint sei, dass es ihn nicht gebe? So habe es in diesem Buch gestanden. Da habe gestanden, ihn gebe es nicht! Aber es gebe ihn ja. Er sitze hier!
«Nicht zu leugnen», sagte Arthur.
Aber im Ernst, das sei doch absurd!
Heinrichs Ausbruch überraschte mich. Ich hatte nicht gewusst, dass er Mein Name sei Niemand gelesen hatte, wir hatten nie darüber gesprochen.
«Wenn es absurd ist, muss man sich ja nicht ärgern», sagte Arthur. «Ist doch nur ein Buch.»
«Ohne Ausflüchte: Wollen Sie etwa sagen, dass es mich nicht gibt?»
«Und wenn ich das sagen würde?»
«Das können Sie nicht sagen!»
Arthur sah mich an. «Muss das wirklich sein?»
«Wovon redest du?»
Mit einer kreisenden Handbewegung zeigte er, genau wie zuvor ich es getan hatte, auf das Fenster, das Meer und unseren Tisch, auf sich, auf mich, auf Heinrich.
Ein paar Sekunden schwiegen wir. Ich hörte Heinrichs pfeifenden Atem und hoffte, dass er nicht verstanden hatte.
«Ein Leben ist schnell vorbei, Iwan. Wenn man sich nicht in Acht nimmt, verliert man es an Albernheiten.»
«Du musst es ja wissen.»