«Richtig, das muss ich.»
«Verlassen Sie mein Haus!», sagte Heinrich.
«Malst du eigentlich auch seine Bilder?», fragte Arthur.
Eine lange Zeit war es still.
«Verlassen Sie mein Haus», flüsterte Heinrich dann.
Arthur lachte auf. «Das ist ja unglaublich! Du malst seine Bilder, und keiner merkt es?»
«Hinaus!» Heinrich stand auf. «Hinaus!» Seine Stimme bebte, aber wenn er es darauf anlegte, hatte sie noch Kraft und Volumen. Er zeigte auf die Tür. «Hinaus!»
Während ich meinen Vater in den Flur begleitete, suchte ich nach einem passenden Satz, nach irgendetwas, das ich sagen konnte. «Wann sehe ich dich wieder?», fragte ich schließlich.
«Bald.» Es klang nicht besonders glaubhaft. Er legte mir die Hand auf die Schulter, und im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Ich ziehe mir den Kittel aus und wasche meine Hände. Klar und hell der Wasserstrahl, im Abfluss wirbeln Farbschleier. Ich verspüre ein wenig Traurigkeit, ein wenig Stolz, ein wenig Besorgnis auch, wie jedes Mal, wenn ein Bild fertig ist. Aber was soll schon passieren? Wo immer es um die Echtheit eines Eulenböck geht, gibt es eine Person, die das letzte Wort hat, und das ist der Vorstand des Eulenböck-Trusts, der Alleinerbe des Künstlers, also ich.
Der Name dieses Gemäldes steht schon seit Jahren in den Verzeichnissen: Urlaubsfoto Nr. 9. Bereits Ende der neunziger Jahre habe ich es in einem Aufsatz erwähnt, und seit fünf Jahren gibt es im Archiv der Nationalgalerie ein Dossier über die Provenienz eines Gemäldes, das einen französischen Marktplatz und eine Niki-de-Saint-Phalle-Plastik zeigt. Archive treffen Sicherheitsvorkehrungen gegen Leute, die etwas stehlen wollen, aber niemand hindert einen daran, etwas hineinzuschmuggeln. In einem halben Jahr wird John Warsinskys Galerie Urlaubsfoto Nr. 9 zum Verkauf anbieten, aber nicht, bevor der Vorstand des Eulenböck-Trusts die wichtigsten Sammler darauf hingewiesen hat. Sie alle werden das Dossier studieren, um die Provenienz zu prüfen, dann wird der Eulenböck-Trust um eine Stellungnahme zur Echtheit gebeten werden. Jeder weiß, dass der Vorsitzende des Trusts auch der Verkäufer ist, aber das stört keinen, das gehört zum Spiel, und wen sollte es auch stören, denn keiner verliert dabei. Nach eingehender Prüfung wird der Trust dem Bild – einerseits seiner makellosen Provenienz wegen, das Gemälde ging aus Eulenböcks Besitz direkt in den seines Erben über, andererseits wegen seines unverwechselbaren Stils – das Siegel der Echtheit verleihen, was umso überzeugender ist, als der führende Eulenböck-Experte, also ich, das Bild schon vor Jahren als ein zu wenig bekanntes Hauptwerk bezeichnet hat.
Dennoch bin ich vorsichtig. Zweimal habe ich Bildern, die ich selbst gemalt habe, die Bestätigung der Echtheit verweigert, ein andermal habe ich eine offensichtliche Fälschung von irgendeinem Stümper für echt erklärt. Ich gelte als eine schwierige und erratische Autorität. Die Sammler fürchten mich ebenso wie die Galeristen, oft empört man sich über die Unvorhersehbarkeit meiner Entscheidungen, und nicht selten werde ich als inkompetent verhöhnt. Niemand wird Verdacht schöpfen.
Unten auf der Straße schiebt ein Mann einen Schubkarren voll Sand. Ihm entgegen kommen drei junge Männer mit Schirmmützen. Sie bleiben stehen und blicken dem Schubkarren nach, als wäre Sand etwas Interessantes, dann lehnen sie sich mit jener angespannten Lässigkeit, wie man sie jenseits der zwanzig schon nicht mehr hat, an die Mauer und zünden sich gegenseitig Zigaretten an. Zwei Autos fahren vorbei, ein einzelnes folgt, dann wieder zwei – gleichmäßige Intervalle, es könnten Morsezeichen sein. Was, wenn das Universum lesbar wäre? Vielleicht steckt ja das hinter der erschreckenden Schönheit der Dinge: Wir bemerken, dass etwas mit uns spricht. Wir kennen die Sprache. Und doch verstehen wir kein Wort.
Wie schade, dass du mich nicht hörst, armer Heinrich. Menschen, die mit den Toten sprechen, behaupten gern, sie spürten, dass da jemand sei. Ich hatte dieses Gefühl nie. Sogar in dem unwahrscheinlichen Fall, dass du noch fortlebst, unsichtbar, frei von Gestalt und Last, sind dir unsere Angelegenheiten gleichgültig. Du stehst nicht neben mir an diesem Fenster, du blickst nicht über meine Schulter, und wenn ich mit dir rede, antwortest du nicht.
Also warum spreche ich mit dir?
Er verstand mich schon nicht mehr, als er noch am Leben war. Die letzten sechs Monate lag er fast nur noch im Bett, manchmal hatte er Wutanfälle ohne Grund, hin und wieder musste er leise lachen. Unterdessen malte ich Ein französischer Film wird gedreht, Großer Gerichtstag und Marktszene bei Barcelona. Zuweilen tauchte er hinter mir auf und sah zu. Die Marktszene interessierte ihn nicht: ein dramatischer Moment in einem Auktionshaus, das Publikum starrt gebannt zum Auktionator, der im Begriff ist, den Zuschlag für eine monochrom blaue Leinwand von Yves Klein zu erteilen. Über den Gerichtstag grinste er in sich hinein: eine zerknitterte Zeitungsseite, scheinbar herausgerissen aus dem Kunstteil der New York Times, realistisch abgebildet in allen Details, darauf rechts die hymnische Besprechung einer Billy-Joel-Biographie und links der Verriss eines Gedichtbandes von Joseph Brodsky. Nur Ein französischer Film wird gedreht machte ihn vor Freude glucksen: ein Altarbild, ganz unten die Beleuchter, Kabelträger und Statisten, eine Stufe höher ein Halbkreis von Kameraleuten, darüber die in Verehrung erstarrten Schauspieler und ganz oben, flankiert von zwei erzengelhaft wuchtigen Produzenten, der Regisseur mit seiner Sonnenbrille. Ich mochte es nie, schon bei der Arbeit daran fand ich es platt, und auch technisch war es ohne Reiz, viel zu nahe an der simplen Karikatur, aber es wurde sein beim breiten Publikum bekanntestes Bild – nicht zuletzt, weil der Regisseur wie Godard aussah. Warsinsky verkaufte es für eine Million, vier Jahre später kaufte ich es für eineinhalb Millionen zurück, um es unter der Hand für drei Millionen an einen turkmenischen Sammler zu verkaufen. Ich hoffe, ich sehe es nie wieder.
Irgendwann stand er nicht mehr auf. Der Fernseher lief, er blieb im Bett und sprach leise vor sich hin. Meist erzählte er eine Anekdote aus seiner Jugend, immer wieder die gleiche: Ein Trinkgelage kam darin vor, eine Mutprobe unter Soldaten, eine Partie russisches Roulette. Ich hörte sie jeden Tag, während ich ihm Hühnersuppe einflößte, während ich ihm auf die Toilette half, während ich sein Kissen zurechtklopfte und ihn zudeckte wie ein Kind. Er wurde schmal, seine Augen wurden trübe, und mit einem Mal hatte er auch seine Anekdote vergessen. Oft saß ich an seinem Bett und dachte nach, ob der, den ich gekannt hatte, sich wirklich noch in diesem geschrumpften Wesen versteckte.
Denn es gab weiterhin klare Momente. Einmal fand ich ihn aufgerichtet, sein Kopf wandte sich mir zu, er schien mich wiederzuerkennen, und er fragte, wann wir nach Paris fliegen würden. Er gab mir den Rat, mich auch wieder meiner eigenen Malerei zu widmen. Das sagte er wirklich: auch wieder meiner eigenen. Danach versank er mit trügerisch weisem Schildkrötenlächeln in sich selbst, ein wenig Speichel lief ihm übers Kinn, und als ich die Laken wechselte, war sein Gesichtsausdruck so leer, als hätte er seit einer Ewigkeit nicht gesprochen.
Ein andermal fragte er unvermittelt nach seiner Kontonummer. Ich musste sie auf einen Zettel schreiben, denn er wollte bei der Bank anrufen, und als ich sagte, dass das um zwei Uhr morgens unmöglich sei, begann er zu schreien, zu bitten und zu drohen. Als ich dann doch das Telefon brachte, wusste er schon nichts mehr damit anzufangen.
Oft vernahm ich seine Stimme im Traum. Wenn ich ihn nach dem Aufwachen neben mir schnarchen hörte, schien es mir für ein paar Minuten gewiss, dass er wirklich mit mir gesprochen hatte, aber wann immer ich mich daran zu erinnern versuchte, wusste ich nur noch, dass er mich um etwas gebeten und dass ich es ihm zugesagt hatte. Doch was es gewesen war, wusste ich nicht mehr.