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Als er im Sterben lag, saß ich unsicher und peinlich berührt daneben und fragte mich, was der Moment von mir verlangte. Ich wischte seine Stirn ab, nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern weil mir Stirnabwischen in dieser Situation passend erschien, und wieder wollte er mir etwas mitteilen: Seine Lippen formten Worte, aber seine Stimme gehorchte nicht, und als sich Papier und Stift gefunden hatten, war er zum Aufschreiben schon zu schwach. Für eine Weile starrten mich seine Augen an, als versuchte er, mit schierer Willenskraft Gedanken zu übertragen, aber es misslang, seine Augen brachen, sein Brustkorb senkte sich, und ich dachte: So sieht das aus, so ist es also, so geht es vor sich. So.

Seither kommen regelmäßig unbekannte Eulenböck-Bilder auf den Markt. In der Hand eines anderen Erben hätte alles eine unglückliche Wendung nehmen können, aber er hatte keine Familie. Keine Tante aus Übersee und kein entfernter Cousin tauchten auf, da war zum Glück nur ich.

Ich muss mich auf den Weg machen, die Betreuung eines Nachlasses ist ein vollwertiger Beruf. Heute habe ich noch ein Treffen zum Kaffee, ein Abendessen und ein zweites Abendessen vor mir: Besprechungen, Projekte, mehr Besprechungen. Zweifelnd sehe ich noch einmal auf die Straße hinunter, auf der sich die drei jungen Männer gerade in Bewegung setzen. Ein vierter, blond und in einem roten Hemd, kommt ihnen entgegen, und die drei umringen ihn.

Ich wende mich vom Fenster ab und betrachte Urlaubsfoto Nr. 9, als sähe ich es zum ersten Mal. Die Farben, die ich verwendet habe, sind über dreißig Jahre alt, die Leinwand ebenfalls: eine von mehreren, die ich noch zu Heinrichs Lebzeiten gekauft und in seinem Atelier abgestellt habe. Er hat sie damals berührt: Sollte je ein forensischer Experte sie untersuchen, wird er des Meisters Fingerabdrücke finden.

Ich schließe die Tür auf, gehe hinaus und schließe hinter mir ab. Der bessere Teil des Tages ist vorbei, der Rest wird Verwaltung und Gerede sein. Rumpelnd macht der Lift sich auf den Weg nach unten.

Ich trete auf die Straße. Herrje, ist das heiß. Die vier jungen Männer da vorne scheinen nur Schemen, die Helligkeit erschwert es, auf einen von ihnen den Blick zu heften. Ich muss es nur bis zur U-Bahn schaffen, dort unten wird es kühler sein. Ich wünschte, ich könnte ein Taxi rufen, aber leider gibt es keine Telefonzellen mehr. Manchmal wäre es von Vorteil, wenn ich ein Mobiltelefon hätte.

Etwas stimmt da nicht. Sie streiten sich. Die drei haben den Vierten in die Mitte genommen, jetzt packt ihn einer an der Schulter und versetzt ihm einen Stoß, und ein anderer fängt ihn auf und stößt ihn zurück. Er ist eingeschlossen. Und ich muss an ihnen vorbei.

Inzwischen kann ich hören, was sie sagen, aber ich verstehe es nicht, die Worte ergeben keinen Sinn. Mein Herz klopft, doch seltsam: Plötzlich ist mir nicht mehr heiß, und mein Kopf ist klar. Das müssen sie sein, die uralten Mechanismen, aktiviert von naher Gewalt. Soll ich in die andere Richtung gehen oder meinen Weg fortsetzen, als wäre nichts? Es sieht aus, als ob sie mich nicht beachten würden, also gehe ich weiter auf sie zu. «Ich bring dich um!», ruft einer offenbar und stößt den in der Mitte wieder, und ein anderer ruft beim Zurückstoßen etwas, das wie «Ich bring dich um!» klingt, aber auch etwas anderes heißen könnte, und ich möchte dem in der Mitte zurufen, dass er es lassen soll, es sind drei, du bist einer, gib auf, aber er ist groß und kräftig und hat ein breites Kinn und – im Vorbeigehen werfe ich einen Seitenblick auf ihn – dümmlich leere Augen. Und weil es ja so nicht bleiben kann, dass man immer stößt und wieder stößt und nichts eskaliert, schlägt einer der drei mit der Faust zu und trifft den in der Mitte am Kopf.

Aber er fällt nicht hin. So läuft es wohl in Wirklichkeit nicht ab, dass einer gleich hinfällt. Er beugt sich nur vor und bedeckt das Gesicht mit den Händen, während der, der zugeschlagen hat, wimmernd seine Faust hält. Es könnte komisch aussehen, doch das tut es nicht.

Schon bin ich vorbei. Sie haben mich nicht beachtet. Ich höre einen Schrei hinter mir. Ich gehe weiter. Dreh dich nicht um. Noch einen Schrei. Einfach weiter. Und dann drehe ich mich doch um.

Meine elende Neugier. Sehen, alles sehen, also auch das. Jetzt stehen nur noch drei da, der in der Mitte ist verschwunden, wie durch ein Zauberkunststück, denke ich. Sie scheinen zu tanzen, einer vor, der andere zurück, und es vergehen ein paar Sekunden, bis mir klarwird, dass der in der Mitte nicht fort ist, sondern auf dem Boden liegt, und sie treten und treten und treten auf ihn ein.

Ich bleibe stehen.

Warum bleibst du stehen, frage ich mich. Verschwinde, damit sie in dir keinen Zeugen erkennen. Genau das schießt mir durch den Kopf: Sei kein Zeuge! Als hätte ich es mit der Mafia zu tun und nicht mit ein paar Halbwüchsigen. Ich blicke auf die Uhr, es ist kurz vor vier, und ich rede mir zu, dass ich schnell weitergehen muss, so etwas passiert sicher ständig, so etwas sieht man nun mal, wenn man ein Geheimatelier in der übelsten Gegend der Stadt hat.

Sie treten immer noch auf den am Boden ein. Von hier aus ist er nur ein gekrümmter Schatten, ein Bündel mit Beinen. Geh weiter, befehle ich mir, sei nicht neugierig, verschwinde! Also gehe ich. Schritt für Schritt – schnell, aber ohne zu rennen.

Nur ist es die falsche Richtung. Ich gehe wieder auf sie zu. Nie habe ich so stark gespürt, dass ich nicht einer bin, sondern mehrere. Einer, der geht, und einer der dem, der geht, vergeblich befiehlt, umzukehren. Und ich begreife, dass ich nicht bloß neugierig bin. Ich werde mich einmischen.

Gleich bin ich bei ihnen. Es dauert länger, als ich erwartet habe, weil mit jedem meiner Schritte die Zeit langsamer wird: Ich durchmesse die Hälfte der Strecke, die mich von ihnen trennt, dann die Hälfte der verbliebenen Strecke und wiederum die Hälfte, wie die Schildkröte in der alten Geschichte – und mit einem Mal bin ich mir fast sicher, ich werde nie ankommen. Ich sehe ihre Beine mit den schweren Schuhen vor- und zurückschnellen, ich sehe ihre Arme sich heben und senken, ich sehe die vor Anstrengung verzerrten Gesichter, ich sehe, dass hoch oben eine Fernsehantenne leuchtet, ich sehe darüber ein Flugzeug, ich sehe einen farblosen Käfer, der winzig eine Asphaltritze entlangläuft, aber ich sehe weder Autos noch Passanten, wir fünf sind allein, und wenn nicht ich mich einmische, macht es keiner.

Jetzt wäre es wirklich gut, ein Telefon zu haben. Ich gehe immer noch. Die Hälfte der verbliebenen Strecke wird wieder eine Hälfte haben und diese wieder eine, und da verstehe ich, dass Zeit nicht nur unendlich lang ist, sondern auch unendlich dicht, zwischen einem Moment und dem nächsten liegen immer unendlich viele andere Momente; wie kann sie überhaupt vergehen?

Sie beachten mich nicht, ich könnte noch umkehren. Der Junge auf dem Boden hält die Arme über den Kopf, seine Beine sind angewinkelt, sein Oberkörper ist gekrümmt. Mir wird klar, dass das vielleicht der letzte Augenblick ist, in dem ich aus der Sache herauskönnte. Ich bleibe stehen und sage krächzend: «Lasst ihn doch!»

Sie beachten mich nicht. Noch immer könnte ich umkehren. Statt einer Antwort höre ich, wie der in mir, der nicht auf den hört, der ihn anfleht zu schweigen, laut wiederholt: «Lasst ihn doch! Hört auf!»

Sie beachten mich nicht. Was tun? Dazwischengehen kommt nicht in Frage, das kann wirklich keiner von mir erwarten. Erleichtert will ich mich schon umdrehen, aber genau jetzt halten sie inne. Alle drei, im selben Moment, als hätten sie es geprobt. Sie starren mich an.

«Was?», sagt der Größte von ihnen. Sein Gesicht ist verschattet von Bartstoppeln, er hat einen dünnen Ring in der Nase, auf seinem T-Shirt steht bubbletea is not a drink I like. Er keucht wie nach harter Arbeit.

Der neben ihm – auf seinem T-Shirt steht MorningTower – sagt ebenfalls, gedehnt und zittrig: «Was?»

Der Dritte starrt nur. Auf seinem T-Shirt ist ein grellrotes Y.