Und weiter. Wenn sie wirklich alle Ron heißen, wird es nicht schwer sein, sie zu finden. Aber vielleicht haben sie das nur gesagt, um mich zu täuschen.
Und weiter. Kann es sein, dass die Hitze den Asphalt aufweicht, ist das möglich? Meine Schuhe sinken ein, und kleine Wellen laufen über die klebrige Masse.
Und weiter. Da, die Tür, der Schlüssel in meiner Hosentasche, der Schlüssel muss in die Tür, die Tür zum Schlüssel, aber ich bin noch immer nicht angelangt. Warum ist hier niemand? Kein Auto, kein Mensch an den Fenstern, aber vielleicht ist das gut so, denn wenn jemand hier wäre, könnten es auch die drei sein, er hat gesagt, sie kommen zurück. Die Tür. Der Schlüssel. Es muss der richtige sein, der für die Haustür, nicht der fürs Atelier, auch nicht der für meine Wohnung, denn dort bin ich nicht, ich bin ja hier.
Und weiter. Nur ein paar Schritte noch. Ein paar noch. Und noch ein paar. Los. Noch ein paar. Ein paar Schritte. Der Schlüssel. Die Tür. Hier.
Er gleitet ab, schrammt übers Metall, das Schlüsselloch weicht aus, nach rechts, nach links, meine Hand zittert, aber ich kann es tasten, den Schlüssel hinein, umdrehen, die Tür geht auf, ins Haus, die Liftkabine, ich drücke den Knopf für den fünften Stock, die Kabine macht einen Ruck.
Ein Mann steht neben mir, eben war er noch nicht da. Er hat eine hässliche Zahnlücke und einen zerbeulten Hut. Er sagt: «Jägerstraße 15b.»
«Ja», sage ich. «Das ist hier. Das ist die Adresse dieses Hauses. Jägerstraße 15b.»
«Jägerstraße 15b», wiederholt er. «Fünfter Stock.»
«Ja», sage ich. «Wir fahren in den fünften Stock.»
Schon sind wir angekommen, die Kabine hält, die Tür öffnet sich, der Mann ist nicht mehr da, ich steige aus; jetzt hängt alles davon ab, den zweiten Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ich habe Glück, die Tür geht auf, ich trete ein und schließe hinter mir ab. Dann fasse ich den Riegel – kurz scheint es, als wolle er sich nicht bewegen, doch dann ruckt er quietschend seitwärts, und die Tür ist blockiert. Geschafft, ich bin in Sicherheit.
Ich will mich setzen. Der Stuhl steht an der anderen Wand, aber die Erleichterung gibt mir Kraft, ich gehe und gehe, und schließlich habe ich ihn erreicht. Am liebsten würde ich schlafen, lange und tief, bis alles besser ist.
Ich betaste meinen Bauch. Nass ist mein Hemd, mein Jackett, auch meine Hose, ich kann mich nicht erinnern, wann ich je so stark geschwitzt habe. Ich halte mir die Hand vor die Augen, sie ist rot.
Und da ist er wieder, mit seinem Hut und seiner Zahnlücke, und noch während ich ihn sehe, ahne ich, dass er gleich wieder verschwinden wird.
«Geh zu deinem Bruder», sagt er, «hilf ihm. Jägerstraße 15b, fünfter Stock. Geh dorthin!»
Anstatt ihm zu antworten, dass nicht mein Bruder hier ist, sondern ich, blinzle ich in die Richtung von Urlaubsfoto Nr. 9, und dort ist er schon wieder und blickt von außen herein, kein schlechtes Kunststück, im fünften Stock auf dem Sims das Gleichgewicht zu halten! Ich kann es an seinen Lippen ablesen: Jägerstraße 15b, fünfter Stock, und ich möchte rufen: «Sie da, ich weiß, wo ich bin!», aber es ist mir zu anstrengend, und jetzt ist er auch schon wieder weg.
Mir ist kalt.
Tatsächlich, ich schlottere. Meine Zähne klappern, und wenn ich mir die Hand vor die Augen halte, sehe ich sie zittern. Heinrich kommt herein, mit Schnurrbart, Stock und Krücke, er tritt ans Fenster. Hinter seinem Kopf bewegt sich ein Flugzeug durch die Schlieren der Scheibe, wie ein Fischchen, das durch Wasser schwimmt, und schon sind wir beide auf einer Wiese, und ich bin kleiner, als ich eben noch war, und Papa und Mama sagen, dass ich Wasser trinken soll, und ich frage Papa, ob er nicht gerade noch Heinrich gewesen ist, und er will wissen, ob ich wirklich keinen Durst habe, und ich sage: Doch, großen Durst, und etwas entfernt von mir sitzt Eric im Gras und sieht so dermaßen aus wie ich, dass mir ist, als wäre ich er. Ich grabe zwischen den Halmen, finde einen Regenwurm und hebe ihn auf, er windet sich über meine Handfläche, Papa beugt sich über meine Schulter, und das Gefühl von Sicherheit hält auch dann noch an, als ich mich umsehe, im Studio. Statt des Wurmes ist Blut auf meiner Hand, und Heinrich sagt: Du musst jetzt raus hier, sonst ist es zu spät.
Erinnerst du dich noch an Erics Anruf, frage ich. Er sagte, seine Sekretärin hat uns verwechselt, Martin und mich, sie hat den falschen angerufen. Erinnerst du dich?
Du musst hier wirklich raus, Iwan.
Wenn sie uns nicht verwechselt hätte, dann hätte ich ihn heute Mittag getroffen, und ich wäre nicht hergekommen, und das alles wäre gar nicht geschehen, ist das nicht kurios?
Sehr kurios, aber du musst hier raus. Sonst ist es zu spät.
Zu spät … Wieso habe ich ihnen eigentlich nicht meine Uhr gegeben? Eine TagHeuer, viertausend Euro, vor zwei Jahren in Genf gekauft. Wenn ich sie ihnen gegeben hätte, hätte ich nicht in die Innentasche greifen müssen. Ich sehe auf die Zeiger. Zehn nach vier. Zehn nach vier. Zehn nach vier. Elf nach vier.
Schön und gut, sagt Heinrich, aber ich schlage vor, dass du aufbrichst.
Wohin?
Na hinaus.
Wohin?
Hauptsache hinaus.
Dort hinaus?
Irgendwo hinaus.
Er hat leicht reden, aber es stimmt, es war ein Fehler zurückzukommen. Dieses Haus steht leer, bis auf ein einziges Stockwerk, das Warenlager, aber auch dort habe ich nie einen Menschen gesehen. Auf Händen und Knien muss ich zur Tür, vorbei an Urlaubsfoto Nr. 9 und den hämischen Kindern, quer über das Lichtviereck, das die Sonne auf den Boden wirft, ein paar Meter weiter ist schon die Tür, dort muss ich mich aufrichten, damit ich Klinke und Riegel erreiche, und draußen bin ich.
Also schiebe ich mich aus dem Stuhl, sinke auf den Boden und krieche los. Ich habe noch Kraft, es geht, ich werde es bis zur Tür schaffen. Erst einmal muss ich an den Schubladen vorbei, in der untersten, die ein wenig offen steht, sind die Pinsel, all meine Pinsel, aber ich weiß nicht, wie ich jetzt, genau jetzt, den richtigen finden soll. Es ist nicht leicht, es sind sehr viele, außerdem suche ich keinen Pinsel!
Aber was suche ich denn sonst?
Es wird mir einfallen. Bei den Schubladen. Kalt der Boden an meinen kalten Händen, rissig der Boden an meinen rissigen Händen, rau der Boden an meinen rauen Händen, weiter. Ich darf nicht zu dem Bild sehen, damit ich den Kindern nicht auffalle, und ich muss dem hellen Viereck ausweichen.
Aber was war denn damit? Mit dem hellen Viereck, was war damit?
Ich weiß es nicht mehr. Hilf mir, mach die Tür auf, ich schaffe das mit dem Riegel nicht. Unten auf der Straße wird mich jemand finden, man wird einen Arzt rufen. Und wenn der Arzt fragt, was ich in dieser Gegend verloren habe? Aber warum soll er das fragen, was kümmert ihn mein Studio, was eine Handvoll falscher Bilder, die man nicht einmal falsch nennen kann, sie sind echt, die Fälschung bist du, armer Heinrich, hilf mir mit der Tür! Ich muss hinaus, bevor ich ohnmächtig werde.
Wenn du das weißt, weißt du doch auch, dass du hier allein bist.
Ja, das weiß ich. Und?
Iwan.
Ja?
Wenn du allein hier bist.
Ja?
Dann kann ich dir nicht mit dem Riegel helfen.
Nein?
Iwan.
Ja, ich verstehe. Ja. Dann muss ich. Weiter. Aber wenn ich unten bin und die drei kommen zurück, was mache ich? Können sie etwa herein, haben sie einen Schlüssel? Vielleicht haben sie mit der Brieftasche auch meine Schlüssel genommen.
Wenn sie ihn genommen hätten, dann wären doch sie jetzt hier und nicht du.
Wieso?
Weil du keinen Schlüssel hättest.
Aber was wollen sie denn hier?
Gute Frage. Vielleicht kriechst du lieber weiter.
Aber –
Es ist eilig.
Aber –
Es ist wirklich eilig, Iwan.
Nie ist mir aufgefallen, dass dieses Studio groß ist. Blickt man von hier unten zum Fenster, dann ist da viel mehr Himmel, viel mehr Blau als sonst. Ich vermute, dass es draußen noch immer heiß ist, aber ich spüre es nicht, mir ist kalt. Jetzt tut es wieder sehr weh. Müsste man nicht einatmen, wäre alles leichter, man kann es einschränken, aber ein klein wenig atmen muss man doch, das brennt wie Feuer. Es ist wohl der Schmerz, der mich wach hält. Denn ich bin so müde, und immer wieder wird es kurz dunkel, aber dann atme ich wieder ein, und im selben Moment tut es so weh, dass ich wach bin, verstehst du?