«Könnte man immer noch ein Loch machen», sagte Georg.
«Die festeste Wand der Welt?»
«Dann stell dir vor, du hast die spitzeste Spitze.»
Eine Weile sagten sie nichts. Das Gebrumm der Hummel wurde höher, tiefer und wieder höher.
«Der Matthias ist eigentlich blöd», sagte Lena dann.
«Stimmt», sagte Georg.
«Warum denn?», fragte Marie.
«Marie und Matthias», sang Lena. «Matthias und Marie. Marie und Matthias. Matthias und Marie.»
«Wann ist Hochzeit?», fragte Georg.
Ohne die Augen zu öffnen, ballte Marie die Faust und schlug zu. Sie traf so genau die Mitte seines Oberarms, dass Georg aufschrie. Marie mochte Matthias auch nicht besonders, und natürlich wussten die beiden das. Es war nur das übliche Gerede auf dem Dach.
Einmal hatte Mama sie beim Hinunterklettern erwischt. Sie hatte sich furchtbar aufgeregt, Georg und Lena hatten eine Weile nicht mehr zu Besuch kommen dürfen, auch Jo und Natalie nicht, obwohl Natalie noch nie auf dem Dach gewesen war. Marie hatte fest versprochen, etwas so Gefährliches nie wieder zu tun, aber sie hatte die Finger in der Hosentasche gekreuzt, damit es nicht galt, und zum Glück hatte Mama es bald wieder vergessen. Mama vergaß schnell. In letzter Zeit war sie selten zu Hause, Kostüme mussten probiert und Leute getroffen werden, auch zu telefonieren hatte sie viel, und regelmäßig musste sie sich mit dem Scheidungsanwalt beraten, einem höflichen Herrn mit Bart, großen Ohren und Robbenaugen.
Zweimal in der Woche kam ihr Vater und nahm sie in den Zoo oder ins Kino mit. Sie interessierte sich nicht besonders für Tiere, und die Filme waren immer falsch ausgewählt – er begriff einfach nicht, was man mit elf Jahren sehen wollte. Manchmal besuchte sie ihn auch im Pfarrhaus. Es war ein Geheimnis, dass er dort wohnte, sie durfte es niemandem erzählen, nicht den Großeltern, nicht Ligurna, keinem in der Schule und vor allem nicht Mama.
Im Pfarrhaus roch es nach Mottenkugeln und Essen. Ihr Vater schlief auf einer Couch neben dem Fernseher unter einem Bild, auf dem Jesus aussah, als hätte er Zahnweh. Er trug immer Jeans und ein rot kariertes Hemd, manchmal trug er auch eine Schirmkappe, auf der I Love Boston stand. Als sie ihn gefragt hatte, wann er das Hemd denn wasche, hatte er irritiert geantwortet, er habe noch zwei andere, die genauso aussähen. Er besaß keinen Computer mehr, kein Telefon, kein Auto und nur ein einziges Paar Sportschuhe. Sie hatte ihn noch nie so gut gelaunt erlebt.
«Die Krise!», rief er, als sie durch den Zoo gingen. «Niemand hat es geahnt. Es ist wie der Weltuntergang. Noch vor acht Monaten wusste keiner davon!»
Sie blieben stehen. Ein Gnu erwiderte mit leeren Augen Maries Blick.
«Die Immobilienderivate. Wenn man das vorhergesehen hätte! Milliarden hätte man machen können! Hat aber keiner vorhergesehen. Die Kurse sind im freien Fall, die Banken können selbst kein Geld leihen.» Er klatschte in die Hände. «Und jeder weiß es, alle reden ständig davon, keiner wundert sich, verstehst du? Keiner hat Fragen! Verstehst du?»
Marie nickte.
Er ging in die Hocke. «Alle verlieren Geld», sagte er ihr ins Ohr. «Alle verlieren alles, verstehst du?»
Marie nickte.
«Niemand fragt jetzt nach seinem Geld. Man erwartet geradezu, dass es verloren ist, man rechnet damit, weil alle verlieren. Es ist ein Wunder. Kein Klient fragt, wo seine Einlagen geblieben sind.»
Marie wusste, wie man dreinblicken musste, damit es so schien, als ob man verstünde. Sie benutzte diesen Blick in der Schule, oft reichte er schon für gute Noten. Sie setzte ihn auch immer dann ein, wenn es ihrem Vater einfiel, ihr wichtige Dinge zu erzählen. Er war der Meinung, dass sie einander ähnlich waren und dass sie ihn besser verstand als irgendjemand sonst.
«Marie», sagte er. «Du verstehst mich besser als irgendjemand sonst.»
Hilfesuchend blickte sie zum Gnu.
«Wenn man zum Beispiel … Nur ein Beispiel, Marie! Wenn man Verluste gemacht hat, und man hat darauf gewartet, dass … Aber plötzlich stellt niemand mehr Fragen!»
«Gehen wir zu den Tigern?»
Er sprang auf und klatschte wieder in die Hände, so laut, dass eine Frau, die einen Kinderwagen vorbeischob, ihn vorwurfsvoll ansah. «Und Klüssen liegt im Krankenhaus! Das kann dauern, er könnte sterben, wer weiß! Mit dem Sohn werde ich schon fertig. Wer hätte das kommen sehen!»
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie vorwärts. Es wunderte sie nicht, dass sie zum Ausgang gingen. Auch heute würde sie die Tiger nicht sehen. Ihr Vater ging nie zu den Tigern.
«Endlich!», rief Georg, als er sie zurückkommen sah. Er hockte auf dem Gartenzaun, auf dem Kopf trug er seine Robin-Hood-Kappe, er hatte einen Köcher umgeschnallt, und in der Hand hielt er einen Bogen. Ihm war offenbar sehr langweilig gewesen.
«Sind die scharf?», fragte ihr Vater.
«Spitz. Nicht scharf, spitz. Nein, die sind gar nicht spitz.»
«Die sehen spitz aus.»
«Sind sie aber nicht.»
Er schwieg ein paar Sekunden, bevor er sagte: «Mit spitzen Pfeilen dürft ihr nicht schießen. Das ist zu gefährlich.»
«Die sind nicht spitz», wiederholte Georg.
«Wirklich nicht!», sagte Marie.
«Stimmt das auch?»
Beide nickten, Georg legte sich sogar die Hand aufs Herz. Aber ihr Vater sah es nicht, weil er zerstreut zur anderen Straßenseite blickte.
«Das Haus habe ich nie gemocht.»
«Ich auch nicht», sagte Marie.
«Warst du mal im Keller?»
«Es gibt einen Keller?»
«Nein. Gibt es nicht, und du gehst auch nicht hinunter!»
«Ist das wahr, dass Sie alles Geld verloren haben?», fragte Georg.
«Die Krise. Völlig unerwartet. Keiner hat sie kommen sehen. Siehst du dir die Nachrichten an?»
Georg schüttelte den Kopf.
«Weißt du, was Derivate sind?»
Georg nickte.
«Und was mortgage backed CDOs sind, weißt du das auch?»
«Ja.»
«Wirklich?»
Georg nickte.
«Passt mit den Pfeilen auf.» Noch einmal sah er besorgt zu dem Haus hinüber, dann strich er Marie über die Wange und ging.
«Die sind wirklich nicht spitz!», rief Georg ihm hinterher.
«Versprochen!», rief Marie.
Während sie ihrem Vater nachsah, fiel ihr wieder Iwan ein. Erst vor kurzem hatte sie verstanden, dass sich das Rätsel vielleicht nie lösen würde. Nie, das hieß: jetzt nicht und auch nicht später und auch nicht viel, viel später, ihr ganzes Leben lang nicht und auch nicht danach. Sie musste oft daran denken, wie er ihr einmal im Museum erklärt hatte, warum Künstler hässliche Sachen wie alte Fische, faule Äpfel oder gekochte Truthähne malten: weil es ihnen nämlich nicht um die Gegenstände gehe, sondern ums Malen der Gegenstände, weil sie also – und hier hatte er sie ernst angesehen und leise gesprochen, als ob er ein Geheimnis verriete – das Malen selbst malten. Dann hatte er sie gefragt, ob sie das verstanden habe, in dem gleichen Ton, in dem ihr Vater ihr immer diese Frage stellte, und sie hatte so genickt, wie sie immer nickte. Ihr Onkel war ihr stets ein wenig unheimlich gewesen, weil er ihrem Vater so ähnlich sah und dessen Stimme hatte und trotzdem ein anderer war. Es gab schon seltsame Dinge. Leute malten Fische, um das Malen zu malen, Fahrräder kippten um, wenn man sie auf ihre zwei Räder stellte, waren aber auf diesen Rädern ganz stabil, wenn man losfuhr, es gab Menschen, die genau wie andere Menschen aussahen, und manchmal verschwand jemand einfach so an einem Sommertag aus der Welt.
«Getroffen!» Georg reichte ihr den Bogen. Drüben, auf der anderen Seite des Gartens, steckte ein Pfeil zitternd in der Zielscheibe. «Aber Vorsicht, sie sind sehr spitz!»
Eine Weile schossen sie abwechselnd. Obwohl es kein großer Bogen war, war er schwer zu spannen; manchmal traf Marie, aber öfter ging es daneben. Georg hatte mehr Übung. Bald schmerzten ihre Finger von der Bogensehne.
Lena kam vorbei, kletterte auf den Zaun und sah ihnen zu. Ihre Mutter hatte sie für eine Stunde fortgeschickt. Ein Mann mit einer teuren Lederjacke, erzählte sie, sei gekommen, er habe ihr Schokolade mitgebracht.