Georg schoss und traf, Marie schoss und traf nicht, Georg schoss und traf nicht, Marie schoss und traf nicht, Marie schoss und traf nicht, Georg schoss und traf nicht, Marie schoss und traf, im Nebenhaus öffnete sich ein Fenster, und eine Frau rief, das seien doch hoffentlich keine spitzen Pfeile. Alle drei schworen, es seien keine.
Allmählich machte die Dämmerung das Zielen schwierig. Der Baum schien größer als zuvor, aber seine Konturen verschwammen, und es fiel immer schwerer, ihn ins Auge zu fassen. Marie zielte noch einmal, und der gespannte Bogen zitterte, denn ihr Arm war schon erschöpft. Sie hielt die Luft an. Der Moment dauerte und dauerte, als könnte sie mit dem Bogen die Zeit anhalten. Und er dauerte immer noch. Dann ließ sie los. Der Pfeil zeichnete seine Bahn in die Dämmerung, streifte den Stamm und verschwand im Gras.
Sie verabschiedete sich von Lena und Georg und ging über die Straße. Woher kam es, dass der Abend anders roch als der Morgen? Auch der Mittag hatte seinen eigenen Geruch. Aus einem Busch flog der Schatten eines Vogels auf, sie zuckte zurück: ein Flattern, ein Krächzen und Wirbeln, schon war er über ihr, schon in der Höhe verschwunden. Sie legte den Kopf in den Nacken. Wenn Iwan wirklich tot war, dann war er jetzt auch dort oben, und die Wolken behinderten nicht seinen Blick, weil für die Toten alle Dinge durchsichtig waren.
Der Kiesweg knirschte unter ihren Schuhen. Durch das Küchenfenster sah sie Ligurna in einem Kochtopf rühren, das Telefon festgeklemmt zwischen Wange und Schulter. Das Fenster war gekippt, es wäre ein Leichtes gewesen zuzuhören. Aber normalerweise lohnte sich das nicht, bei den Erwachsenen ging es selten um etwas Interessantes. Sollte sie noch einmal auf den Baum klettern? Nicht bis aufs Dach, das traute sie sich allein nicht, aber vielleicht bis ans Fenster des Arbeitszimmers? Dann schien es ihr doch zu gefährlich. Im Dunkeln sah man die Zweige nicht gut, man konnte fallen, und wenn unerwartet eine Hexe im Baum saß, war man ihr hilflos ausgeliefert.
Sie ging durch die Halle, die Treppe hinauf, ins Esszimmer. Hier stand schon ihr Teller: ein Stück braunrotes Fleisch mit Sauce, etwas Reis, ein Häufchen Erbsen, daneben eine Glasschüssel mit Pudding. Sie befühlte das Fleisch. Warm, weich und faserig fühlte es sich an, lebendig und tot zugleich. Sie öffnete das Fenster und warf es hinaus. So machte sie es oft. Draußen würde es wohl ein Tier holen, jedenfalls war es nie vorgekommen, dass Essen, das sie abends hinausgeworfen hatte, am nächsten Morgen noch da war. Stehenlassen durfte sie nämlich nichts. Wenn sie zweimal hintereinander nicht aufaß, erzählte Ligurna es Mama, und die kam dann, nahm ihre Hand und fragte, ob sie Sorgen habe, ob etwas sie bedrücke, ob es etwas gebe, das sie ihr nicht erzählen wolle.
Natürlich gab es das, denn es tat gut, Geheimnisse zu haben. Mama wusste nichts von dem Geld, das Marie im Kinderzimmer versteckt hatte: dreihundertzwanzig Euro, gefaltet und klein gepresst, unter dem Fuß ihres Bettes. Ein Teil war von ihrem Taschengeld, ein Teil stammte aus Großvaters Brieftasche, die er immer achtlos im Flur ablegte. Wichtig war es, nie zu viel zu nehmen, höchstens zwanzig, nie einen Fünfziger. Sobald fünfzig Euro fehlten, fiel das den Erwachsenen auf, weniger bemerkten sie nicht. Mama wusste auch nicht, dass die Brosche, die sie so lange gesucht hatte, neben dem Apfelbaum eingegraben war; Marie und Lena hatten Schatzsuche gespielt und dann die Stelle nicht mehr gefunden. Und dass Marie schon zweimal ihre Unterschrift auf Entschuldigungsschreiben nachgemacht hatte, um mit Georg angeln zu gehen, wusste sie auch nicht. Leider hatten sie keinen Fisch gefangen, weil keiner von ihnen es über sich gebracht hatte, auf den Haken einen Wurm zu spießen.
Außerdem wusste Mama sehr wenig über dieses Haus. Manche Dinge konnte man ihr nicht erklären.
Vor zwei Monaten war Marie von der Schule gekommen, hatte ihre Tasche abgestellt und sich rücklings auf den Teppich gelegt, um dem Regen zuzuhören. Manchmal hatte sie die Hände gehoben, ein Auge zugekniffen und, vor dem Weiß der Zimmerdecke, die Umrisse ihrer Finger betrachtet. Sie hatte Lena und Georg angerufen, aber beide waren nicht zu Hause gewesen, dann hatte sie es bei Natalie versucht, die schon ein eigenes Telefon hatte, aber auch die hatte nicht abgehoben. Also war sie ins oberste Stockwerk gegangen. Es gab da oben einen Raum voller leerer Koffer; früher hatte Marie sie stundenlang auf- und zumachen können, hatte Freude daran gehabt, sich hineinzusetzen und vom einen in den anderen zu klettern, aber wenn man elf war, war das nicht mehr aufregend. Im Zimmer daneben standen Schränke mit Bettwäsche, Handtüchern und allerlei besticktem Zeug, dort hatte sie sich eingeschlossen und einige Zeit dem Prasseln auf dem Dach gelauscht. Dann war sie wieder in den Flur gegangen und hatte die Tür zur kleinen Kammer nebenan geöffnet. Ein Tisch und ein Stuhl standen darin, an den Wänden waren uralte Tapeten mit verblichenen braunen Rechtecken. Das Fenster war schmutzig, offenbar putzte Ligurna hier nie. Marie hatte eigentlich hineingehen wollen, aber dann hatte sie vorsichtig die Tür geschlossen und war nach unten gegangen. Erst in ihrem Zimmer, als sie sich an den Tisch gesetzt, die Schreibtischlampe angeknipst und ihr Rechenheft aufgeschlagen hatte, war ihr vor Schreck eiskalt geworden. Jemand hatte am Tisch gesessen – vorgebeugt, den Kopf zur Tür gedreht, die Ellenbogen aufgestützt, die Hände tief in den Haaren vergraben. Sie hatte das gesehen, aber nicht gleich begriffen; erst in der Erinnerung war es deutlich geworden. Bloß das Gesicht hatte ihr Gedächtnis nicht aufbewahrt. Wie sollte man seinen Eltern so etwas erklären? Nicht einmal Ligurna hätte es geglaubt.
Sie aß die Erbsen, den Reis und den Nachtisch, ging dann zu Mamas Zimmertür, klopfte und trat ein.
«Warum klopfst du nicht?» Mama lag auf dem Bett und lernte Text. «Na komm, setz dich. Hörst du mich ab?» Sie hielt Marie die Blätter hin.
Es waren nur drei Seiten. Auf der ersten stand:
7/4 INNEN, TAG – ELKES WOHNUNG
Elke und Jens nebeneinander am Tisch.
ELKE Es kann so nicht weitergehen, Jens.
Jens schüttelt sorgenvoll den Kopf.
ELKE (cont’d) Du weißt das, und ich weiß das.
JENS Und Holger weiß es auch.
ELKE Sprich nicht von Holger.
JENS Wie soll ich nicht von ihm sprechen? Er steht zwischen uns.
ELKE Er ist mein Mann. Der Vater meiner Kinder.
JENS Und was bin ich?
Elke sieht ihm in die Augen.
ELKE Du bist alles, Jens.
«Elke ist eine widersprüchliche Frau», sagte Mama. «Manchmal fühle ich mich ihr nahe, dann wieder ist sie mir fremd.»
«Wieso gibt es die Welt?», fragte Marie.
«Elke will frei sein. Das ist das Wichtigste für sie. Aber sie spürt auch ihre Verantwortung. Sie versucht, in diesem Widerspruch zu leben.»
«Gott hat sie geschaffen, aber woher kommt Gott? Hat er sich selbst geschaffen?»
«Habe ich dir schon erzählt, wer den Jens spielt?»
«Wenn man sagt, Gott hat alles geschaffen, ist das überhaupt keine Erklärung. Wieso gibt es etwas?»
«Wieso es etwas gibt?»
«Ja, wieso?»
«Mirso Kapus.»
«Was?»
«Das heißt ‹wie bitte›. Mirso Kapus spielt die Hauptrolle. Du kennst ihn vom Fernsehen.»
«Ich sehe nicht fern. Ich sehe DVDs. Lenas Cousin hat uns gestern StarWars gebrannt.»
«Man kann gar nicht sagen, warum es die Welt gibt, die Welt braucht keinen Grund. Mirso Kapus hat den großen Fernsehpreis bekommen.»
«Es wäre viel einfacher, wenn es nichts gäbe.» Marie kroch unter die Bettdecke. «All die Leute und Autos und Bäume und Sterne. All die Ameisen und Bären und der viele Sand in der Wüste und der Sand auf anderen Planeten und das Wasser und Georg und die Chinesen und alles andere. Das ist so viel!»