«Versuch es», sagte Lindemann zu dem Jungen neben Iwan. «Du kannst sie nicht lösen, du kannst es nicht, versuch es, du kannst es nicht.»
Iwan hörte ein tiefes, grollendes Geräusch; erst nach ein paar Augenblicken wurde ihm klar, dass es Lachen war. Das Publikum lachte über sie. Aber bei mir nicht, dachte Iwan, er muss bemerkt haben, dass es bei mir nicht funktioniert, deshalb fragt er mich nicht.
«Hebt den rechten Fuß», sagte Lindemann. «Alle drei. Jetzt.»
Iwan sah die beiden anderen den Fuß heben. Er spürte alle Blicke auf sich. Er schwitzte. Was also blieb ihm übrig? Er hob den Fuß. Nun würden alle meinen, er wäre hypnotisiert.
«Vergiss deinen Namen», sagte Lindemann zu ihm.
Er spürte Ärger in sich aufsteigen. Allmählich wurde es zu dumm. Wenn der Kerl noch einmal fragte, würde er ihn vor allen Leuten bloßstellen.
«Sag ihn!»
Iwan räusperte sich.
«Du kannst es nicht, du hast ihn vergessen, du kannst es nicht. Wie heißt du?»
Es lag wohl an der Situation, an der schrecklichen Helligkeit und daran, dass es nicht leicht war, vor so vielen Menschen auf einem Bein zu stehen, man brauchte seine ganze Konzentration, um das Gleichgewicht zu halten. Es war nicht das Gedächtnis, nein, es war die Stimme, die ihm nicht gehorchte. Sie steckte in seinem Hals und kam nicht heraus. Was immer man ihn jetzt fragen würde, er musste stumm bleiben.
«Wie alt bist du?»
«Dreizehn», hörte er sich sagen. Mit etwas Willenskraft ging es also doch.
«Wie heißt deine Mutter?»
«Katharina.»
«Dein Vater?»
«Arthur.»
«Ist das der Herr dort unten?»
«Ja.»
«Und wie heißt du?»
Er schwieg.
«Du weißt es nicht?»
Natürlich wusste er es. Er spürte die Konturen seines Namens; er wusste, wo dieser Name in seinem Gedächtnis lag; er spürte ihn, aber ihm schien, als wäre der, der diesen Namen trug, ein anderer als der, den Lindemann fragte, sodass alles nicht zusammenpasste und überhaupt sehr nebensächlich war, verglichen mit dem Umstand, dass er auf einer Bühne stand, auf einem Bein, mit juckender Nase, die Hände zusammengepresst, und dass er auf die Toilette musste. Und da fiel ihm der Name ja auch schon wieder ein, Iwan natürlich, Iwan, er holte Luft und öffnete den Mund …
«Und du?», fragte Lindemann den Jungen neben ihm. «Weißt du deinen?»
Aber jetzt habe ich ihn doch, wollte Iwan rufen, jetzt kann ich ihn sagen! Doch er blieb stumm, es war eine Erleichterung, dass es nicht mehr um ihn ging. Er hörte, wie Lindemann die beiden neben ihm etwas fragte, er hörte sie antworten, er hörte die Zuschauer lachen und klatschen. Er spürte, dass ihm Schweißtropfen über die Stirn liefen, aber er konnte sie nicht wegwischen, es wäre peinlich gewesen, jetzt die Hände zu bewegen, wo der ganze Saal doch meinte, er wäre in Trance.
«Schon vorbei», sagte Lindemann. «War nicht schlimm, oder? Löst die Hände, steht auf euren zwei Beinen, eure Namen kennt ihr wieder. Vorbei. Aufwachen. Vorbei.»
Iwan senkte den Fuß. Natürlich ging das leicht, er hätte es die ganze Zeit schon tun können.
«Schon gut», sagte Lindemann leise und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Es ist vorbei.»
Iwan stieg hinter den beiden anderen die Treppe hinunter. Er hätte sie gerne gefragt, wie es ihnen ergangen war, was sie gesehen und gedacht hatten, wie es sich anfühlte, wirklich hypnotisiert zu sein. Aber da war er schon in der dritten Reihe, die Leute machten Platz, er schob sich an ihren Knien vorbei und sank auf seinen Sitz. Er atmete auf.
«Wie war es?», flüsterte Martin.
Iwan zuckte die Achseln.
«Erinnerst du dich, oder hast du alles vergessen?»
Iwan wollte antworten, dass er natürlich nichts vergessen hatte und dass das Ganze ein alberner Trick gewesen war, aber da bemerkte er, dass die Leute in den Reihen vor ihnen sich umgedreht hatten. Sie sahen nicht auf die Bühne, sondern zu ihm. Er blickte sich um. Alle Menschen im Theater sahen ihn an. Lindemann hatte gelogen. Es war nicht vorbei.
«Ist er das?», fragte Lindemann.
Iwan starrte zur Bühne empor.
«Dein Vater. Ist er das?»
Iwan sah Arthur an, sah zu Lindemann, sah wieder zu Arthur. Dann nickte er.
«Wollen Sie zu mir kommen, Arthur?»
Arthur schüttelte den Kopf.
«Sie glauben, Sie möchten nicht. Aber Sie möchten. Glauben Sie mir.»
Arthur lachte.
«Es tut nicht weh, es ist nicht gefährlich, es könnte Ihnen sogar gefallen. Machen Sie uns die Freude.»
Arthur schüttelte den Kopf.
«Gar nicht neugierig?»
«Bei mir funktioniert es nicht!», rief Arthur.
«Vielleicht nicht. Das kann schon sein, das gibt es. Umso eher könnten Sie heraufkommen.»
«Nehmen Sie jemand anderen.»
«Aber ich will Sie.»
«Warum?»
«Weil ich es will. Weil Sie glauben, Sie wollen nicht.»
Arthur schüttelte den Kopf.
«Kommen Sie!»
«Geh schon», flüsterte Eric.
«Das ist doch interessant», flüsterte Martin.
«Alle schauen uns an», flüsterte Iwan.
«Na und!», sagte Arthur. «Sollen sie schauen. Warum ist Kindern immer alles peinlich?»
«Sagen wir es gemeinsam!», rief Lindemann. «Schicken Sie ihn mir herauf, zeigen Sie es ihm, klatschen Sie, wenn er kommen soll. Klatschen Sie laut!»
Wilder Applaus brach los, ein Trampeln und Schreien, als gäbe es plötzlich für niemanden etwas Wichtigeres als die Erfüllung von Lindemanns Wunsch, als könnte keiner sich größeres Glück vorstellen, als Arthur auf der Bühne zu sehen. Der Lärm schwoll immer weiter an, immer mehr Stimmen mischten sich hinein: Die Leute klatschten und brüllten. Arthur rührte sich nicht.
«Bitte!», rief Eric.
«Bitte, geh», sagte Martin. «Bitte!»
«Nur für euch», sagte Arthur und stand auf. Durch die johlende Menge arbeitete er sich zum Mittelgang vor, dann ging er zur Treppe und stieg empor. Lindemann machte eine schnelle Handbewegung, der Lärm erstarb.
«Bei mir haben Sie Pech», sagte Arthur.
«Kann sein.»
«Es geht wirklich nicht.»
«Dieser nette Junge. Das war Ihr Sohn?»
«Es tut mir leid, ich bin nicht der Richtige. Sie möchten jemanden, der erst einmal verlegen ist und dann mit Ihnen plaudert und etwas über sich erzählt, worüber Sie dann einen Scherz machen können, damit alle lachen. Wollen wir das nicht überspringen? Sie können mich nicht hypnotisieren. Ich weiß, wie das funktioniert. Etwas Druck, etwas Neugier, der Wunsch dazuzugehören, die Angst, etwas falsch zu machen. Und natürlich die Sehnsucht nach einem Erlebnis. Aber nicht bei mir.»
Lindemann schwieg. Seine Brillengläser glänzten im Scheinwerferlicht.
«Können die uns hören?» Arthur zeigte auf die drei reglosen Körper.
«Sie sind mit anderem beschäftigt.»
«Und das möchten Sie mit mir auch machen? Ein anderes Leben?»
Iwan fragte sich, wie sein Vater es anstellte, dass man jedes seiner Worte verstand. Er hatte kein Mikrophon, und er sprach leise; dennoch hörte man ihn deutlich. Gelassen stand er da, als wäre er allein mit dem Hypnotiseur und dürfte fragen, was immer ihm einfiel. Auch sah er nicht mehr geistesabwesend aus. Es schien ihm Spaß zu machen.
Lindemann dagegen wirkte zum ersten Mal unsicher. Er lächelte noch, aber auf seiner Stirn lagen Falten. Mit spitzen Fingern nahm er die Brille ab, setzte sie wieder auf, nahm sie von neuem ab, faltete sie und schob sie hinter das grüne Stecktuch in seine Brusttasche. Er hob die rechte Hand und hielt sie über Arthurs Stirn.
«Sehen Sie auf meine Hand.»
Arthur lächelte.
Lindemann legte seine Linke auf Arthurs Schulter. «Sehen Sie auf meine Hand, sehen Sie darauf, sehen Sie, sehen Sie auf meine Hand.»
«Mache ich doch.»
Ein Kichern ging durch den Saal. Lindemanns Miene verzog sich für einen Moment. «Sehen Sie auf meine Hand, sehen Sie, sehen Sie auf meine Hand. Nur darauf, auf nichts anderes, nur auf die Hand.»