«Elke kann sich entwickeln. Die Geschichte kann in die unterschiedlichsten Richtungen gehen.»
Es war nicht ganz dunkel unter der Decke, ein wenig Licht drang herein. «Kann ich hier schlafen?»
«Nicht heute. Ich muss lernen.»
«Aber es sind nur drei Seiten.» Marie hob die Decke etwas an, damit sie besser atmen konnte. Durch den Spalt sah sie Mamas Schminktisch mit dem Spiegel, sie sah das Bild mit dem Teddybären, das bis vor kurzem bei ihrem Vater gehangen hatte, und sie sah eine Ecke des Fensters.
«Drei Seiten oder zwanzig oder hundert, darauf kommt es nicht an», sagte Mama gereizt. «Man muss eine Rolle erfassen. Man muss eine Haltung finden!»
Marie schloss die Augen. Ihre Glieder kamen ihr schwer vor. Sie hörte Mama «Er ist mein Mann» murmeln, «der Vater meiner Kinder. Er ist mein Mann. Der Vater meiner Kinder». Dann musste sie für eine Weile eingeschlafen sein, denn Mama rüttelte sie sanft, und schon tappte sie an ihrer Hand durch den Flur. Im Kinderzimmer zog Mama ihr Hemd, Hose und Unterwäsche aus, streifte ihr den Pyjama über, legte sie hin, deckte sie zu, gab ihr einen Kuss, sodass die Haarspitzen auf ihrer Wange kitzelten. Die ganze Zeit über dachte Marie daran, dass sie sich nicht hatte die Zähne putzen müssen, Mama hatte es vergessen, manchmal hatte man Glück. Dann schloss sich die Tür, sie war allein.
An der Decke glommen die blassen Lichtflecken der Straßenlaterne. Sie hörte den Apfelbaum an der Mauer kratzen. Sie hörte den Wind. Sie zog sich die Decke über den Kopf, jetzt hörte sie nur noch das Rascheln des Stoffs, aber wenn man ruhig lag, wirklich ganz ruhig, ohne zu atmen, dann hörte man gar nichts mehr, dann war da keine Welt und fast keine Marie. So ungefähr musste es sich anfühlen, ein Stein zu sein und dazuliegen, während die Zeit verging. Ein Tag, ein Jahr, hundert Jahre. Hunderttausend Jahre. Hundertmal hunderttausend Jahre.
Dabei war ein Tag schon lang. So viele Tage noch bis zu den Sommerferien, so viele mehr bis Weihnachten und so viele Jahre, bis man erwachsen war. Jedes davon voller Tage und jeder Tag voller Stunden und jede Stunde eine Stunde lang. Wie sollten die vergehen, wie hatten es alte Leute nur geschafft, alt zu werden? Was tat man mit so viel Zeit?
2
Die Bäume waren schon bunt, aber das Laub fiel noch nicht. Marie kam von der Schule, den Rucksack über der Schulter, ihr Telefon in der Hand, als sie sah, dass ein Mann am Gartentor wartete.
«Marie?»
Sie nickte.
«Hast du Zeit?»
Arthur war groß und blass und stand ein wenig zur Seite geneigt, als hätte er Rückenschmerzen, seine Haare waren sehr unordentlich. Er hielt ihr die Autotür auf, die Sitze rochen nach frischem Leder, auf dem Boden lag weder Schmutz noch das kleinste Stück Papier.
Zwei Monate waren vergangen, seit Marie seinen Brief bekommen hatte. Es war der erste richtige Brief in ihrem Leben gewesen, Ligurna hatte ihn einfach so neben ihren Teller gelegt, als wäre das nichts Besonderes. Aber Ligurna interessierte sich ohnehin kaum mehr dafür, was bei ihnen vorging: Seit Mama ihr gekündigt hatte, schmeckte das Essen noch schlechter als früher, und auf den Regalen sammelte sich Staub. Sie würden auch das Haus nicht mehr lange halten können, hatte Mama gesagt, sogar mit Hilfe der Großeltern sei es zu teuer. Mama fand das traurig, aber Marie war es recht. Sie hatte das Haus nie gemocht.
In dem Kuvert war nur ein einziges Blatt gewesen, beschrieben in einer erstaunlich lesbaren Handschrift. Bedauerlicherweise, schrieb Arthur, seien sie einander noch unbekannt, aber sie könne ihm jederzeit eine Nachricht schicken. Darunter stand eine E-Mail-Adresse, darunter seine Unterschrift.
Lieber Arthur, hatte sie geantwortet, danke für deinen Brief, das ist Marie, geht es dir gut? Das ist meine Mailadresse. Mit freundlichen Grüßen, Marie.
Eine Woche später war Antwort gekommen. Er wollte wissen, an welchem Tag sie Geburtstag hatte, in welche Klasse sie ging und ob gern oder ungern, neben wem sie saß, wie ihr dümmster Lehrer hieß, welche Fernsehsendung sie sehr und welche sie gar nicht mochte, ob sie gern rechnete, was sie über ihren Vater dachte, was über ihre Mutter, was über Iwan und Martin, welche ihre Lieblingsfarbe war, ob Regen sie niedergeschlagen machte, wie oft sie über Iwans Verschwinden nachdachte, ob sie fand, dass man Tiere essen durfte, ob sie Mittwoch für einen besseren Tag hielt als Montag und, wenn ja, ob immer oder nur manchmal, und ob sie der Meinung war, dass man besser einem König gehorchen sollte, einem Präsidenten oder überhaupt niemandem. Er befragte sie zu Luftballons und Büchern, er befragte sie zu Teddybären und Puppen, er befragte sie zu ihren Freunden. Er fragte, warum sie seine Fragen bis zu dieser Stelle überhaupt beantwortet hatte, oder falls nicht, warum sie sie nicht hatte beantworten wollen, er bat sie, sich nicht zum Antworten gedrängt zu fühlen, bedankte sich für ihre Antworten und schloss mit einem knappen Gruß, ohne etwas von sich preisgegeben zu haben.
Sie hatte vor kurzem erst ein Telefon bekommen. Rot, glatt und kühl lag es in der Hand, hinten flach, vorn über die gesamte Fläche der Bildschirm, aber an das Tippen ohne Tasten hatte sie sich noch nicht gewöhnt. Ständig irrte man sich, immer wieder ersetzte das Korrekturprogramm die Wörter, die man geschrieben hatte, durch andere, die keinen Sinn ergaben, doch sie tippte und tippte. Schließlich war sie schon dreizehn, da brachten einen Fragen nicht so leicht in Verlegenheit. Als nach zwei Tagen noch nichts zurückgekommen war, schrieb sie: Lieber Arthur, hast du meine Mail bekommen, wie geht es dir? Können wir uns treffen? Mit freundlichen Grüßen, Marie.
Das Auto fuhr fast lautlos, sie sah sich um. Sie kannte diesen Stadtteil nicht und hatte keine Ahnung, wohin ihr Großvater sie brachte. Verputz blätterte von den Mauern, auf der Straße lagen weggeworfene Dosen.
«Weiß man inzwischen etwas?», fragte Arthur.
Sofort verstand sie, dass er Iwan meinte. «Nein, aber es gab neulich einen Artikel.»
Sie begann, auf ihrem Telefon zu suchen. Lesezeichen, Linkliste, hier war er schon: www.kunstkritikonline.de/sebastianzoellnersmeinung/eulenboeck. Sie räusperte sich. Sie las gern vor und freute sich, wenn sie in der Schule zum Vorlesen drankam, auch wenn sie immer so tat, als wäre es ihr unangenehm, denn wer wollte schon ein Streber sein. Sie betonte richtig, sie verlas sich selten, und bei schwierigen Wörtern musste sie kaum je stottern. Nie würde sie so schön wie Mama werden, aus ihr würde keine Schauspielerin, aber ihre Stimme war tadellos.
Was sagt es aus über diese fragmentierte Gesellschaft, dass ausgerechnet Heinrich Eulenböck Nationalkünstler der Stunde ist? Brauchen wir so sehr einen Dandy für die Mittelklasse, ja haben wir wirklich so große Angst vor der Unsicherheit, dass wir es für nötig halten, uns in den Schutzpanzer der Ironie zu hüllen? Offenbar lautet die Antwort: ja. Nur wenige Künstler konnten in der Krise ihren Preis halten, ihn erhöhen konnte kaum einer. Verschreckte Sammler traten lieber leise und investierten in Betongold oder gleich in Nuggets für den Tresor im Keller. Bluechips-Maler wurden rar wie fliegende Elefanten. Wieso erwies sich ausgerechnet dieser handwerklich solide Ironie-Klassizismus plötzlich als sichere Bank? Eulenböcks Bilder werden Händlern und Auktionshäusern für Rekorderlöse aus den Händen gerissen wie geschnitten Brot.
«Machen wir uns nichts vor», erklärt der Chefkurator der Freien Galerie Bochum, Hans-Egon Eggert. «Es liegt an der Politik des neuen Nachlassverwalters: eine hundertachtzig-Grad-Kurskorrektur mit dem Ziel, Kohle zu machen.» Der Hintergrund: Seit August vorigen Jahres wird Iwan Friedland, der umtriebige Erbe des Meisters, spurlos vermisst. «Friedlands Hauptaugenmerk galt der Pflege von Eulenböcks Renommee», erläutert Eggert. «Da hat sich, um es vorsichtig auszudrücken, der Schwerpunkt verschoben.» Kritischer noch sieht es der Direktor des Hamburger Koptmanmuseums, Karl Bankeclass="underline" «Das Werk eines bedeutenden Künstlers zu betreuen ist eine hochkomplexe Aufgabe. Die wenigsten sind ihr gewachsen. Iwan Friedland war es nicht. Sein Nachfolger ist es noch weniger.»