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In der Kunstszene war es stets ein offenes Geheimnis, dass Friedland seine Position nicht etwa besonderer Kompetenz, sondern einem Naheverhältnis zum greisen Malerfürsten verdankte. Seine umstrittene Tätigkeit verunsicherte Sammler, aber hielt die Preise moderat. Unter Eric Friedland, dem zunächst provisorischen und inzwischen wohl auch permanenten Nachfolger seines Bruders, hat sich diese Politik geändert: Plötzlich sind Eulenböcks Bilder in Allerweltsausstellungen von diversen Privatsammlungen zu finden: Kunstforum Rottweil, Telefonica Kunstcenter in Madrid, Kunstverein Bingen, Projektraum Städtische Bank Brüssel, Sparkassenstiftung Ebersfeld, you name it. Der einstmals vorgetäuschte Mangel an Werken ist dem Überangebot einer wahren Bilderflut gewichen, und sogar Merchandising-Artikel hat man schon in Museumsshops gesichtet: Tassen, Bettwäsche, Handtücher, versehen mit den beliebten ruralen Landschaften aus Eulenböcks Frühwerk. Längst haben sich die namhaften Museen dies- wie jenseits des Atlantiks von dem Künstler zurückgezogen. Ein Schelm, wer das alles in einen Zusammenhang mit Eric Friedlands angeblich prekärer wirtschaftlicher Lage brächte.

Schon kündigt sich an, dass die Preise stagnieren. Man muss kein Prophet sein, um zu vermuten, dass sich auch hier der Höhenflug als Vorspiel des Desasters entpuppen wird – wenig bedauerlich angesichts eines Werks, das nach Meinung der Kenner eher dünne Suppe ist als Substanz. Aber sobald die kurzlebigen Moden nicht mehr unseren Blick vernebeln, werden wir vielleicht reif sein für eine andere Kunst, eine leise, eine subtilere, aber auch mutige Kunst, die nicht in die Vergangenheit blickt, sondern in die Zukunft. Das wird die Stunde der Stillen sein, fernab von Hype und Hektik, die Stunde, um nur ein Beispiel zu nennen, von Krystian Malinowski. Sein Werk profitiert nicht von der Krise, sondern überwindet sie. Gefragt, wie er sich eine Zeit vorstelle, in der –

«Aber das widerspricht sich, oder?» Marie sah auf. «Einmal nennt er ihn bedeutend, dann sagt er –»

«Du musst darüber nicht nachdenken.»

«Soll ich weiterlesen?»

«Es genügt.»

«Papa sagt, so viel können die Bilder gar nicht einbringen, dass davon seine Schulden verschwinden. Papa sagt, Kunst ist nicht genügend wert. Aber immerhin vertröstet es die Bank, sagt er. Sie pfänden jeden Cent, aber sie lassen ihn leben, solange Geld hereinkommt. Deshalb wohnt er auch im Pfarrhaus, das darf ich aber nicht weitersagen. Wo wohnst du?»

«Ich bin viel unterwegs.»

«Schreibst du noch?»

«Nein.»

«Warum bist du erst jetzt gekommen?»

«Ich habe zu tun.»

«Und was?»

«Nichts.»

«Du tust nichts?»

«So leicht ist das gar nicht.»

Arthur bog ab und steuerte einen fast leeren Parkplatz an. Über einem Tor grinsten Clownsgesichter aus Kunststoff, dahinter ragten die Umrisse einer Achterbahn auf.

«Ein Jahrmarkt», sagte Marie enttäuscht. «Schön.»

Sie stiegen aus. Ein Mann führte zwei Jungen an den Händen, eine Frau schob einen Kinderwagen, ein paar junge Männer tranken aus Bierflaschen, ein Mann und eine Frau standen untergehakt vor einer Schießbude.

«Warum bist du damals weggegangen?», fragte sie.

«Man wird dir sagen, das Leben besteht aus Verpflichtungen. Vielleicht hat man es dir schon gesagt. Aber das muss nicht stimmen.»

Marie nickte. Sie verstand nicht, was er meinte, aber sie hoffte, dass er ihr das nicht ansah.

«Es geht auch ohne Kompromisse. Man kann leben, ohne ein Leben zu haben. Ohne Verstrickungen. Das macht vielleicht nicht glücklich, aber es macht leicht.»

«Wie wär’s damit?» Marie zeigte auf ein Labyrinth. Labyrinthe waren nie schwer. Wenn man an der rechten Wand entlangging und den Blick auf den Boden heftete, ohne sich von den Spiegeln ablenken zu lassen, war man sofort wieder draußen.

Sie holte ihr Telefon heraus. Stellt euch vor, tippte sie, bin auf dem Jahrmarkt. Während Arthur bezahlte, ging sie auf den Eingang zu. Summend öffnete sich die Tür.

What the hell Jahrmarkt?, fragte Georg.

Gibts eine Luftburg??, schrieb Natalie.

Sag mir wo ich komm auch, schrieb Jo.

Sie tastete sich an der Wand entlang. Durch eine Glasscheibe sah sie die Buden und das Halbrund des Riesenrads, sie sah die Achterbahn. Ein kleiner Junge leckte an einer Eistüte und starrte durch sie hindurch, als wäre sie unsichtbar.

Sehr witzig!, schrieb sie.

Gar nicht, antwortete Jo, ich mag jahrmaerkte waere wirklich gern dabei.

Wo war Arthur geblieben? Aber Situationen wie diese war sie gewohnt, so war es auch, wenn ihr Vater mit ihr in den Zoo ging: Sie tat es für ihn, er tat es für sie, beide wären sie lieber zu Hause geblieben. Sie tastete sich weiter an der Wand entlang, dann um die Ecke, dann wieder um die Ecke, dann noch einmal um die Ecke, dann hätte sie beim Ausgang sein müssen. Aber der Ausgang war hier nicht, sie stand vor einem Spiegel, es ging nicht weiter.

Aber wir wollten doch zu Matthias Geburtstagsparty, schrieb Lena.

Später, antwortete sie und steckte das Telefon ein, sie musste sich konzentrieren.

Auf dem Boden war ein blauer Farbfleck. Sie ging am Spiegel vorbei und noch einmal um eine Ecke und noch einmal, und hier war endlich das Drehkreuz des Ausgangs, aber sie sah es nur durch Glas, denn der Weg führte in die andere Richtung, nach links und dann noch einmal nach links, zurück in Richtung des Eingangs. Wieder war da der blaue Fleck. Daneben lag eine gebogene Metallstange, das eine Ende rund wie der Knauf eines Spazierstocks, das andere spitz zugefeilt. Sie bückte sich. Kein Zweifel, es war derselbe Fleck. Aber vor ihr war kein Spiegel, konnte der Fleck den Ort gewechselt haben? Und wo kam die Stange her? Also noch einmaclass="underline" rechts und wieder rechts, und wieder war da der Fleck. Da stimmte etwas nicht. Noch einmaclass="underline" rechts und rechts, und da war er wieder, aber jetzt war die Stange nicht mehr zu sehen. Sie ging in die andere Richtung. Nach links und wieder nach links, bis sie vor einer Glaswand stand und nicht weiterkonnte. Sie ging zurück und fand den Eingang. Er war verschlossen.

Sie tastete, rüttelte, klopfte. Vergeblich. Sie klopfte fester. Nichts geschah. Sie schlug mit der Faust. Nichts.

Sie trat vor die Glasscheibe, durch die man auf den Jahrmarkt hinaussah, und versuchte, dem Mann an der Kasse zuzuwinken, aber der Winkel war ungünstig, sie konnte ihn nicht sehen und er nicht sie. Der Notruf? Aber sie hatte sogar Eintritt bezahlt, um sich zu verirren, sie würde sich lächerlich machen. Sie ging nach links und nach rechts und wieder nach links und wieder nach rechts, zweimal an der Glasscheibe entlang, dreimal an Spiegelwänden, dann stand sie wieder vor dem blauen Fleck. Jenseits der Scheibe ging ein Mann in die Knie und sah sie an; sie zuckte zusammen. Dann erst erkannte sie Arthur.

Sie klopfte gegen das Glas. Er lachte und klopfte zurück, offenbar hielt er es für einen Scherz. Sie zeigte nach rechts und links und hob die Hände, um ihm zu bedeuten, dass sie nicht herausfand. Arthur stand auf und schlenderte aus ihrem Blickfeld. Ihr Hals schnürte sich zusammen, wütend spürte sie, dass ihr die Tränen aufstiegen. Gerade als sie den Notruf wählen wollte, tippte ihr jemand auf die Schulter.

«Neben dir», sagte Arthur.

«Was?»

«Na, der Ausgang! Neben dir. Was ist los, weinst du?»

Es stimmte, der Ausgang war nur ein paar Meter entfernt. Einmal nach links, dann nach rechts, hier war schon das Drehkreuz. Wie hatte sie es nicht sehen können? Sie murmelte, dass sie natürlich überhaupt nicht geweint habe, wischte die Tränen ab und lief ins Freie.