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Marie legte den Arm um Matthias’ Nacken. Sie spürte, dass er zusammenzuckte, es war ihm nicht angenehm, wenn sie ihn in Gegenwart ihres Vaters berührte. Er hatte Angst vor ihm, das konnte man ihm nicht vorwerfen.

Einen Freund zu haben war nicht leicht. Manchmal wünschte sie sich, sie hätte damit noch gewartet, aber Lena hatte schon einen, Miriam hatte einen, und auch Georg hätte gern eine Freundin gehabt. In seiner Verzweiflung hatte er sogar Marie gefragt, aber da hatte sie lachen müssen, das war doch zu absurd. Mit Matthias, der schon sechzehn war, ein Jahr älter als sie, war sie seit einem Monat zusammen, und sie hatte schon dreimal mit ihm geschlafen. Beim ersten Mal war es merkwürdig und ein wenig anstrengend gewesen, beim zweiten Mal war es ihr bloß albern vorgekommen, aber beim dritten Mal, bei ihm zu Hause, während seine Eltern verreist waren und der Hund kläglich an der Tür kratzte, hatte sie plötzlich begriffen, warum die Menschen so viel Aufhebens davon machten.

Der Messdiener trat zurück, Martin trug jetzt sein Ornat. Sogleich schien er schlanker und strahlte Würde aus.

«Kommt Laura auch?», fragte Eric.

«Sie dreht», sagte Marie. «Sie haben für die neue Staffel ihre Rolle ausgebaut.»

«Wie ist die Serie denn?», fragte Martin.

«Sehr gut», sagte Matthias. «Wirklich interessant.» Marie stieß ihn mit dem Ellenbogen. Beide mussten grinsen.

Vor einem Jahr hatte sie begonnen zu zeichnen. Keiner wusste davon, sie war noch zu ungeschickt im Setzen der Striche, die Formen wollten sich nicht fügen, aber sie zweifelte nicht daran, dass sie geschickter werden würde. Später wollte sie im Nebenfach Graphik studieren, ihr Hauptfach würde Medizin sein, und dann würde sie noch eine oder drei oder auch vier Sprachen lernen, aber mehr nicht: Immerhin wollte sie auch noch Bücher lesen und durch ferne Kontinente reisen, Patagonien musste sie sehen und die Küste Nordafrikas. Nach China wollte sie auch.

«Also bringen wir es hinter uns.» Martin öffnete die Tür. Draußen schneite es in großen, langsam fallenden Flocken.

Es waren nur wenige Schritte bis zur Kirche. Martin ging voran, der Messdiener folgte ihm, dann kam Eric, und Matthias und Marie bildeten den Schluss. Sie streckte die Zunge aus und schmeckte den Schnee. Das kalte Weiß erstickte die Geräusche. Sie hakte sich bei Matthias unter.

«Gehen wir dann zu mir?», flüsterte er ihr ins Ohr.

Vielleicht war das eine gute Idee. Seine Eltern waren wieder verreist, sie hätten das Haus ganz für sich, und doch war sie nicht sicher. Sie mochte Matthias und wollte ihm nicht weh tun, aber es konnte sein, dass sie einen anderen Freund brauchte. Sie legte den Kopf auf die Seite, sodass ihre Haare seine Wange streiften. «Vielleicht.»

Misstrauisch sah Eric sich nach ihnen um. Marie war noch zu jung, um Arm in Arm mit einem Jungen herumzulaufen, noch dazu mit einem jämmerlichen. Dafür war es viel zu früh. Wenn das so weiterging, würden sie sich bald noch küssen. Wie sollte er das verhindern?

Er musste mehr beten. Beten half immer. Hätte er früher mehr gebetet, wäre er nie in derartige Schwierigkeiten geraten. Alle seine Vermutungen hatten sich bestätigt: Man wurde ständig beobachtet, der Kosmos war ein System von Zeichen, arrangiert, um gelesen zu werden, die Nächte waren voller Dämonen, und in jedem Winkel lauerte Böses. Aber wer sich Gott anvertraute, musste nichts fürchten. Das war schlicht und wahr, und er begriff nicht, warum sein Bruder so ärgerlich wurde, sobald er davon sprach. Iwan hatte er immer verstanden, aber mit dem Dicken gestaltete sich alles kompliziert. Besser konnte er sich darüber mit seinem neuen Freund Adrian Schlüter unterhalten. Der hatte ihn darauf hingewiesen, dass Gott jedem verzeihen musste, der zur Beichte ging: Der Herr selbst habe sich ans Sakrament gebunden.

Also ging Eric jeden Tag zur Beichte. Er war schon in allen Kirchen der Stadt gewesen, er wusste, wo man lange warten musste und wo man gleich an die Reihe kam, er wusste auch, wo die Pfarrer zugänglich waren, wo sie zu viel fragten und wo sie einen auch nach dem zehnten Mal nicht wiedererkannten, er wusste, um welche Kirchen man besser einen Bogen machte, weil von ihren Fassaden Dämonen herabstarrten, die Schimpfwörter zischten und ihn nicht einlassen wollten. Jeden Tag zu beichten, das erforderte Disziplin. Manchmal hatte man nichts getan und musste etwas erfinden, aber die Mühe lohnte sich: Frei von Schuld ging man durchs Leben, schwerelos wie ein Neugeborenes, und brauchte kein Strafgericht zu fürchten.

Er sah auf. Weiß flimmerten die Flocken vor dem Himmelsgrau. Gestern Abend hatte es zu schneien angefangen, und er hatte auf seinem durchgelegenen Sofa vor lauter Stille nicht schlafen können. Die ganze Nacht lang hatte er sich Schreibtisch, Visitenkarten, Telefonanlage, Computer und Firmenauto vorgestellt – all die Dinge, die er bald wieder haben würde.

Erst zwei Monate war es her, dass er Lothar Remling auf der Straße getroffen hatte. Schulterboxen, großes Hallo, Fußballgespräch: Unglaublich, hatte Eric aufs Geratewohl gerufen, das Spiel, neulich! Remling hatte geantwortet, man fasse es ja nicht, wie die Idioten das versemmelt hätten, und dann hatte er erzählt, dass für remling.Consult goldene Zeiten angebrochen seien, die Regierungen hätten so viel Geld ins System gepumpt, dass man gar nicht wisse, wohin damit, wer hätte das gedacht noch vor einem Jahr! Dann hatte er gefragt, wie es bei Eric so gehe und stehe, und der hatte schon antworten wollen, dass er viele Projekte habe und bis zur Erschöpfung arbeite, aber plötzlich hatte er zu seiner eigenen Überraschung gesagt, er tue nichts.

Nichts?

Gar nichts. Überhaupt nichts, den ganzen Tag. Er habe sich zurückgezogen und lebe im Pfarrhaus. Bei seinem Bruder, dem Priester.

Ja der Wahnsinn, hatte Remling gesagt. Jetzt echt?

Er habe eingesehen, dass das so nicht weitergehen könne, hatte Eric gesagt. Man müsse auch einmal eine Auszeit nehmen. Nachdenken. Er lese in der Bhagavad Gita. Er meditiere. Er gehe zur Beichte. Er verbringe Zeit mit seiner Tochter. Er verwalte die Kunstsammlung seines verstorbenen Bruders. Bestimmt werde er zurückkehren, aber das habe keine Eile. Man verliere so leicht das Wesentliche aus den Augen.

Das Wesentliche, hatte Remling gesagt. Ja, ganz genau, darum gehe es.

Dann hatte er nach Erics Nummer gefragt, und Eric hatte geantwortet, er habe kein Telefon mehr, man könne ihn aber im Pfarrhaus erreichen.

Tatsächlich hatte Remling drei Tage später angerufen, und sie hatten sich zum Essen getroffen, und zwei Tage danach hatten sie sich wieder getroffen und in der Woche darauf noch einmal, und schon war alles unter Dach und Fach gewesen. Er brauche keinen Vertragsanwalt, hatte Eric gesagt, sein Schicksal liege ohnehin in der Hand Gottes, und Remling hatte gerufen, das alles sei ja unerhört.

Eric hatte keine Zweifel, dass er bei remling.Consult schnell aufsteigen würde. Er verfügte über Erfahrung, er kannte alle Tricks, er hatte eine der großen Vermögensberatungsfirmen des Landes aufgebaut. Dass sie Schiffbruch erlitten hatte, war nicht seine Schuld gewesen, niemand hatte die Krise vorausgesehen, keiner hatte wissen können, was auf sie zukam, das hatten ihm all seine Mitarbeiter bestätigt. Zweimal in der Woche traf er sich mit Maria Gudschmid und Felsner zum Tee, und dann sagten sie es einander reihum: Man habe es nicht voraussehen können! Deshalb hatten die Anleger auch ihre Verluste akzeptiert, deshalb hatte Klüssens Sohn auf eine Klage verzichtet. Nur sein ehemaliger Chauffeur hatte einen Brief an die Staatsanwaltschaft geschrieben, aber die Anschuldigungen darin waren so aberwitzig, dass man darauf verzichtet hatte, Ermittlungen aufzunehmen. Der Verkauf der fast hundert Gemälde und an die tausend Skizzen, die sich teils in Eulenböcks Atelier und teils in Iwans Wohnung befunden hatten, war zusammen mit dem Abdruck von Eulenböcks Bauernhäusern auf Stiften, Kinderkreiseln, Pyjamas und Tassen so einträglich gewesen, dass er davon die Zinsen der Überbrückungskredite zahlen konnte. Schade nur, dass so viele Bilder verschollen waren: Von drei Dutzend Gemälden, in Iwans Verzeichnissen genau beschrieben, fehlte jede Spur – keiner hatte sie gesehen, keiner wusste etwas über sie, es war, als hätten sie nie existiert. Jetzt war der Boom leider vorbei, Eulenböcks Preise fielen, und die Lizenzerlöse gingen zurück, aber das Schlimmste war überstanden. Er würde nicht ins Gefängnis kommen, Gott hatte das geregelt. Außerdem waren seine Sinne geschärft, und er dachte schneller als je – es war hilfreich gewesen, dass er sein Budget für Medikamente hatte einschränken müssen: Er nahm nur noch das Unvermeidliche, das, was man unbedingt brauchte, um aufrecht durch den Tag zu kommen.