Das hatte er auch Sibylle gesagt. Vier Jahre hatte er sie nicht gesehen, sie hatte abgenommen und sah erschöpft aus. Er hatte ihr gesagt, was er Remling gesagt hatte: Bhagavad Gita, Beichte, kein Telefon, Auszeit, Gottes Hand. Von der Krise hatte er gesprochen, die keiner habe voraussehen können, vom Pfarrhaus und von der Scheidung. Er hatte davon gesprochen, dass er nie wieder vollständig sein werde seit dem Tag, an dem sein Zwillingsbruder gestorben sei. Sibylle hatte gefragt, ob Laura wieder gesund sei, und er hatte gesagt, Gott sei Dank, ja! Und jetzt würde er also bei ihr einziehen. Sein Einkommen war bis zum Existenzminimum gepfändet, eine eigene Wohnung konnte er sich nicht leisten, aber er musste um jeden Preis weg vom Pfarrhaus. Für einen frommen Menschen war das einfach kein Ort.
Eric bückte sich und nahm eine Handvoll Schnee. So pulvrig war er noch, dass man kaum einen Ball daraus formen konnte. Er wollte den zerfallenden Schneeball irgendwohin schleudern, aber es gab kein Ziel. Marie sah mit einem Mal zu erwachsen aus, als dass man sie bewerfen konnte, und auf ihren grässlichen Freund wollte er auch nicht zielen – wenn man den ins Gesicht traf, entstand womöglich eine peinliche Situation. Martin durfte er auch nicht mehr bewerfen, jetzt, wo der seine Priesterkleidung trug. Also zielte er auf den Messdiener.
Er traf ihn am Hinterkopf, der Schnee staubte wie ein Heiligenschein. Der junge Mann fuhr herum, für einen Moment sah er aus wie ein Tier vor dem Angriff, dann entspannten sich seine Züge, und er lächelte bemüht.
Etwas war seltsam an ihm. Als er zum ersten Mal ins Pfarrhaus gekommen war, hatte er bei Erics Anblick hysterisch zu kichern begonnen. Immer noch konnte er kaum mit Eric sprechen, ohne blass zu werden und zu stottern. Eric vermutete, dass er von irgendwem den Auftrag hatte, ihn zu überwachen, aber das machte ihm jetzt keine Sorgen mehr. Er stand unter dem Schutz Gottes.
Sie betraten die Kirche. Die Orgel schwang sich von Akkord zu Akkord, die Gemeinde war größer als sonst. Die fünf alten Frauen, die immer kamen, waren hier, auch der freundliche dicke Mann und der nicht ganz so freundliche dicke Mann, die traurige junge Frau und Adrian Schlüter. Aber diesmal waren auch ein paar alte Freunde von Iwan gekommen, darunter ein belgischer Maler mit Seidenschal und spitzem Bart, eine Kusine, die sie alle seit Jahren nicht gesehen hatten, sowie Erics Sekretärin Kathi, die jetzt beim Eulenböck-Trust angestellt war, um die Lizenzen zu verwalten. Martins Mutter war hier und neben ihr, aufrecht und ruhig, Prälat Finckenstein. In der ersten Reihe – das Gesicht, vielleicht der Trauer und vielleicht auch ihrer Bekanntheit wegen, verborgen hinter einer Sonnenbrille – saß Iwans und Erics Mutter.
Seit mehr als vier Jahren wurde Iwan jetzt vermisst, in der Woche zuvor hatte man ihn offiziell für tot erklärt. Eric hatte auf dieser Messe bestanden, er hatte gebeten, geschimpft und schließlich mit einer Beschwerde beim Bischof gedroht. Martin hatte sich gewehrt, so lange er konnte. Iwan war nicht getauft gewesen, außerdem waren Seelenmessen Blödsinn – warum sollte der Allwissende seine Meinung über eines Menschen Seele ändern, nur weil dessen Hinterbliebenen ein paar Lieder sangen? Oder richtiger: Seelenmessen wären Blödsinn, würde es den Allwissenden geben und hätte die Theologie Sinn. Deshalb hatte er schließlich eingelenkt.
Die Gemeinde stand auf. «Der Herr sei mit euch», sagte Martin. Seit er begriffen hatte, dass der Glaube nicht mehr zu ihm finden würde, fühlte er sich frei. Da half nichts: In diesem Leben würde er nicht mehr schlank werden, und er würde der Vernunft nicht entkommen.
«Und mit deinem Geiste», nuschelte die Gemeinde.
Martin sprach über seinen Bruder. Er war kein Anfänger, und die Sätze flossen, ohne dass er nachdenken musste: Iwan Friedland habe gelebt und gemalt, er habe geforscht und vieles gesehen, weil das Sehen seine Leidenschaft gewesen sei. Er sei zu niemandem schlecht gewesen, und er habe seine Arbeit in den Dienst der Kunst eines Größeren gestellt, dessen Rang er vor allen anderen erkannt habe. Vieles hätte noch aus ihm werden können, aber lange vor der Zeit habe ihn ein Unglück ereilt, über dessen Natur nur Gott Bescheid wisse. Er werde nie zurückkommen.
Martin faltete die Hände. Der Messdiener atmete schwer, rieb sich das Gesicht, hüstelte vor sich hin und schnüffelte aufs lästigste. Der Junge tat sein Bestes, aber er war einfach nicht geeignet für diesen Beruf, man musste sich wohl doch nach etwas anderem für ihn umsehen. Vielleicht konnte Eric helfen, der hatte immer noch Verbindungen.
Während Martin sich sprechen hörte, schloss er die Augen. Er stellte sich vor, wie draußen die Flocken fielen. Wenn der Wetterbericht recht hatte, würden sie noch tagelang fallen, Räumfahrzeuge würden sich bemühen, die Straßen frei zu machen, Chemikalien würden versprüht werden, aber der Schnee würde weiter auf die Gehsteige fallen, auf die parkenden Autos, auf die Gärten, Bäume, Dächer und Antennen. Für ein paar Tage würde die Welt überzogen sein von Schönheit. Er bemerkte, dass er wieder Hunger bekam.
«Und jetzt», sagte er, «das Bekenntnis des Glaubens.»
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Über Daniel Kehlmann
Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren, lebt in Berlin und Wien. Sein Werk wurde unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Der Roman «Die Vermessung der Welt», in bisher 46 Sprachen übersetzt und von Detlev Buck verfilmt, wurde zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit. Daniel Kehlmann ist Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt schrieb er die Theaterstücke «Geister in Princeton» (ausgezeichnet mit dem Nestroy-Theaterpreis) und «Der Mentor».
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Über dieses Buch
«Jahre später, sie waren längst erwachsen und ein jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.»
Mit diesem Satz fängt er an, Daniel Kehlmanns Roman über drei Brüder, die – auf je eigene Weise – Heuchler, Betrüger, Fälscher sind. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Leben, doch plötzlich klafft ein Abgrund auf. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, ein winziger Zufall, ein falscher Schritt, und was gespenstischer Albtraum schien, wird wahr.
Es ist der Sommer vor der Wirtschaftskrise. Martin, katholischer Priester ohne Glauben, übergewichtig, weil immer hungrig, trifft sich mit seinem Halbbruder Eric zum Essen. Der hochverschuldete, mit einem Bein im Gefängnis stehende Finanzberater hat unheimliche Visionen, teilt davon jedoch keinem etwas mit. Schattenhafte Männer, sogar zwei Kinder warnen ihn vor etwas, nur: Diese Warnungen gelten gar nicht ihm. Gemeint ist sein Zwillingsbruder Iwan, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf.
Daniel Kehlmanns Roman über Lüge und Wahrheit, über Familie, Fälschung und die Kraft der Fiktion ist ein virtuoses Kunstwerk – vielschichtig, geheimnisvoll und kühn.