«Ich merke nichts.»
«Das müssen Sie auch nicht.» Lindemann klang gereizt. «Nur schauen! Auf die Hand schauen, auf die Hand, sonst nichts.»
«Sie richten das Bewusstsein auf sich selbst, oder? Das ist der Trick. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Aufmerksamkeit. Darauf, wie sie sich auf sich selbst richtet. Eine Schleife, und plötzlich kann man nicht mehr –»
«Sind das da unten Ihre Söhne?»
«Ja.»
«Wie heißen sie?»
«Ist das wichtig?»
«Wie sie heißen.»
«Iwan, Eric und Martin.»
«Iwan und Eric?»
«Die Ritter der Tafelrunde.»
«Erzählen Sie über sich.»
Arthur schwieg.
«Erzählen Sie über sich», wiederholte Lindemann. «Wir sind unter Freunden.»
«Da gibt es wenig zu sagen.»
«Wie schade. Wie traurig, wenn das stimmen sollte.»
Lindemann senkte seine Hand, beugte sich vor und sah Arthur ins Gesicht. Es war ganz still, man hörte nur ein schwaches Rauschen, vielleicht die Klimaanlage, vielleicht die Elektrizität der Scheinwerfer. Lindemann trat einen Schritt zurück, ein Bühnenbrett knarrte, einer der Schlafenden stöhnte.
«Was machen Sie beruflich?»
Arthur schwieg.
«Oder haben Sie keinen Beruf?»
«Ich schreibe.»
«Bücher?»
«Würde das, was ich schreibe, gedruckt, wären es Bücher.»
«Ablehnungen?»
«Ein paar.»
«Das ist schlimm.»
«Nein, das macht nichts.»
«Stört Sie gar nicht?»
«Ich habe wenig Ehrgeiz.»
«Stimmt das denn?»
Arthur schwieg.
«Sie sehen nicht aus, als ob Sie wenig wollen. Sie möchten das von sich glauben, aber Sie glauben es nicht. Ich glaube es Ihnen auch nicht. Keiner glaubt es. Was wollen Sie wirklich? Wir sind unter Freunden. Was wollen Sie?»
«Weg.»
«Von hier?»
«Von überall.»
«Von zu Hause?»
«Von überall.»
«Weg von daheim?»
«Daheim ist man tot.»
«Das klingt nicht so, als ob Sie zufrieden sind.»
«Wer ist schon zufrieden.»
«Bitte antworten Sie.»
«Nein.»
«Nicht glücklich?»
«Nein.»
«Sagen Sie das noch einmal.»
«Ich bin nicht glücklich.»
«Warum halten Sie noch aus?»
«Was soll man denn tun!»
«Fliehen?»
«Man kann nicht dauernd fliehen.»
«Warum nicht?»
Arthur schwieg.
«Und Ihre Kinder? Lieben Sie die?»
«Das muss man.»
«Richtig. Man muss. Alle gleich?»
«Iwan mehr.»
«Warum?»
«Er ist mehr wie ich.»
«Und Ihre Frau? Wir sind unter Freunden.»
«Sie mag mich.»
«Das war nicht die Frage.»
«Sie verdient Geld für uns, sie kümmert sich um alles, wo wäre ich ohne sie?»
«Vielleicht frei.»
Arthur schwieg.
«Was denken Sie von mir? Sie wollten nicht auf die Bühne, jetzt stehen Sie hier. Sie dachten, bei Ihnen funktioniert es nicht. Was denken Sie jetzt? Zum Beispiel von mir?»
«Ein kleiner Mensch. Unsicher in allem, deswegen sind Sie, was Sie sind. Weil Sie nichts wären ohne das hier. Weil Sie stottern, wenn Sie nicht hier oben stehen.»
Lindemann schwieg eine Weile, als wollte er dem Saal Gelegenheit zum Lachen geben, aber kein Geräusch war zu hören. Sein Gesicht sah bleich und wächsern aus, Arthur stand sehr gerade, seine Arme hingen herab, er rührte sich nicht.
«Und Ihre Arbeit? Ihr Schreiben, Ihr Dichten? Arthur? Was ist damit?»
«Nicht wichtig.»
«Warum nicht?»
«Zeitvertreib. Kein Grund, Aufhebens zu machen.»
«Es stört Sie nicht, dass Ihre Werke nicht erscheinen?»
«Nein.»
«Dass sie nicht gut sind? Stört Sie nicht?»
Arthur trat einen kleinen Schritt zurück.
«Sie haben keinen Ehrgeiz, glauben Sie? Aber vielleicht wäre es besser, Sie hätten Ehrgeiz, Arthur. Vielleicht wäre Ehrgeiz besser, vielleicht sollten Sie gut sein, vielleicht sollten Sie sich eingestehen, dass Sie gut sein wollen, vielleicht sollten Sie sich anstrengen, vielleicht sollten Sie arbeiten, vielleicht Ihr Leben ändern. Alles ändern. Alles ändern, Arthur. Was meinst du?»
Arthur schwieg.
Lindemann trat noch näher an ihn heran, er stellte sich auf die Zehenspitzen und näherte sein Gesicht dem Arthurs. «Diese Herablassung. Wozu sich anstrengen, das hast du immer gedacht, nicht wahr? Aber jetzt? Da die Jugend hin ist, da alles, was du tust, Gewicht bekommt, da die Leichtigkeit verschwindet, was muss geschehen? Das Leben ist schnell vorbei, Arthur. Noch schneller verschwendet. Was muss passieren? Wohin willst du?»
«Weg.»
«Von hier?»
«Von überall.»
«Dann hör zu.» Lindemann legte die Hand auf Arthurs Schulter. «Das ist ein Befehl, den du befolgen wirst, weil du ihn befolgen willst, und du willst es, weil ich es befehle, und ich befehle es, weil du willst, dass ich es befehle. Von heute an bemühst du dich. Egal, was es kostet. Egal, was es kostet. Wiederhole!»
«Egal, was es kostet.»
«Von heute an.»
«Von heute an», sagte Arthur. «Egal, was es kostet.»
«Mit ganzer Kraft.»
«Egal, was es kostet.»
«Und was hier gerade geschehen ist, soll dich nicht kümmern. Du kannst heiter daran zurückdenken. Wiederhole.»
«Heiter. Daran zurückdenken.»
«Und es ist ja auch nicht wichtig. Ist doch nur Spiel und Spaß, Arthur, Zeitvertreib am Nachmittag. So wie dein Schreiben. Wie alles, was Menschen tun. Dreimal klatsche ich, dann kannst du dich setzen.»
Lindemann klatschte in die Hände: einmal, ein zweites Mal, ein drittes. An Arthur war keine Veränderung wahrzunehmen. Er stand wie zuvor, gerade, den Nacken ein wenig nach hinten geneigt. Kein Laut war zu hören. Zögernd drehte er sich um und stieg die Treppe hinunter. Allmählich begann da und dort zaghaftes Klatschen, aber erst als Arthur seinen Sitz erreicht hatte, schwoll es zu donnerndem Applaus. Lindemann verbeugte sich und zeigte auf Arthur. Der tat es ihm mit leerem Lächeln nach und verbeugte sich auch.
Das sei das Schöne an seinem Metier, sagte Lindemann, als wieder Stille eingekehrt war. Nie wisse man vorher, was der Tag bringen werde, nie ahne man die Herausforderungen, die auf einen zukämen. Nun aber endlich der Höhepunkt, das Beste, das Glanzstück. Mit einer leichten Berührung an der Schläfe weckte er die schlafende Frau und fragte, was sie erlebt habe.
Sie setzte sich auf, aber nach ein paar Sätzen nahm die Erregung ihr den Atem. Sie keuchte, schluchzte, schnappte nach Luft. Unter Tränen sprach sie von einem Dasein als Bäuerin im Kaukasus, einer schweren Kindheit in Winterkälte, sie sprach von ihren Brüdern und Schwestern, ihrem Vater und ihrer Mutter, ihrem Mann, den Tieren, dem Schnee.
«Können wir gehen?», flüsterte Iwan.
«Ja, bitte», sagte Eric.
«Warum?»
«Bitte», sagte Martin. «Bitte, gehen wir! Bitte.»
Als sie aufstanden, ging ein boshaftes Kichern durch den Saal. Eric ballte die Fäuste und stellte sich vor, dass er sich all das nur einbildete, während Martin zum ersten Mal begriff, dass Menschen ohne Grund schadenfroh sein konnten, hämisch und gemein. Sie konnten auch ohne Grund gut, freundlich und hilfreich sein, beides ganz in einem. Vor allem aber waren sie gefährlich. Diese Erkenntnis sollte ihm bleiben, immer verbunden mit der Erinnerung an das Gesicht Lindemanns, der von der Bühne herab ihrem Aufbruch zusah, während er mit dem grünen Tuch seine Brille putzte. Genau in dem Moment, da Martin als Letzter hinausging, traf ihn sein Blick: die Brauen hochgezogen, lächelnd, im Mundwinkel feucht die Zunge. Schon hatte sich mit feinem Klicken die Tür geschlossen.
Die ganze Rückfahrt über klopfte Arthur aufs Lenkrad und pfiff dazu. Martin saß sehr gerade neben ihm, Iwan starrte aus dem einen Fenster, Eric aus dem anderen. Zweimal fragte Arthur, was sie denn nur gestört habe, warum sie hätten gehen wollen und wieso in aller Welt Kindern immer alles peinlich sei, aber als keiner antwortete, sagte er bloß, dass er manches nie verstehen werde. Diese Frau, rief er, die alberne russische Bauerngeschichte, viel zu dick aufgetragen, eindeutig eine Mitarbeiterin des Hypnotiseurs, kinderleicht durchschaubar, wer solle denn so etwas glauben! Er schaltete das Radio ein, dann gleich wieder ab, dann wieder ein, und dann, nach einer kurzen Weile, wieder ab.