Выбрать главу

«Habt ihr gewusst», fragte er, «dass der Kondor höher fliegt als alle anderen Vögel?»

«Nein», sagte Eric. «Wusste ich nicht.»

«So hoch, dass er von der Erde aus manchmal nicht mehr sichtbar ist. So hoch wie ein Flugzeug. Manchmal so hoch, dass der Weg hinauf kürzer ist als hinunter.»

«Was soll das heißen?», fragte Iwan. «Wohin hinauf?»

«Na, hinauf eben!» Arthur rieb sich die Stirn. Für einige Sekunden fuhr er mit geschlossenen Augen.

«Verstehe ich nicht», sagte Martin.

«Was gibt es da zu verstehen! Sag mir lieber, wie es dir in der Schule geht, du erzählst ja nie etwas.»

«Alles gut», sagte Martin leise.

«Keine Probleme, keine Schwierigkeiten?»

«Nein.»

Arthur schaltete das Radio ein und wieder aus. «So!», rief er. «Aussteigen.»

Martin, Eric und Iwan blickten sich überrascht an. Jetzt erst bemerkten sie, dass sie vor Martins Haus waren.

Martin stieg aus.

«Wir auch?», fragte Iwan.

«Natürlich.»

Unschlüssig stiegen die Zwillinge aus, nur Arthur blieb sitzen. Eric blickte auf seine Schuhe hinunter. Eine Ameise folgte einer Ritze im Asphalt, ein grauer Käfer kreuzte ihren Weg. Tritt auf den Käfer, sagte eine Stimme in seinem Kopf, tritt auf ihn, tritt schnell auf den Käfer, dann wird vielleicht alles noch gut. Er hob den Fuß, aber dann senkte er ihn wieder und ließ den Käfer am Leben.

Arthur kurbelte das Autofenster herunter. «Alle meine Söhne.» Er lachte, kurbelte das Fenster hoch und trat aufs Gaspedal.

Die drei sahen zu, wie der Wagen sich entfernte, kleiner wurde und um die Ecke verschwand. Eine Weile sprach keiner.

«Wie kommt man weg von hier?», fragte Iwan schließlich.

«Fünf Straßen weiter geht ein Bus», sagte Martin. «Nach sieben Stationen steigt man um, dann drei Stationen in einem anderen Bus, dann kann man in die U-Bahn umsteigen.»

«Dürfen wir mit reinkommen?», fragte Eric.

Martin schüttelte den Kopf.

«Warum nicht?»

«Mama ist da etwas komisch.»

«Wir sind deine Brüder!»

«Eben.»

Aber als sie dann doch an der Tür klingelten, fand Martins Mutter sich unerwartet schnell mit der Lage ab. Es sei unglaublich, sagte sie immer wieder, man fasse es nicht, so eine Ähnlichkeit! Sie gab den Zwillingen Coca-Cola und einen Teller voll zuckriger Gelatinebärchen, die sie verzehrten, um nicht unhöflich zu sein, und natürlich erlaubte sie Iwan, das Telefon zu benützen und daheim anzurufen.

Danach gingen sie in Martins Zimmer, und er holte die kleine Luftdruckpistole hervor, die Arthur ihm erst ein paar Monate zuvor geschenkt hatte und die er gut vor seiner Mutter versteckt hielt. Zu dritt stellten sie sich ans Fenster und zielten abwechselnd auf den allmählich in der Dämmerung verschwimmenden Baum am Straßenrand gegenüber. Eric traf zweimal den Stamm und zweimal Blätter, Iwan traf den Stamm zweimal, aber dafür kein einziges Blatt. Martin traf ein Blatt, nicht aber den Stamm, und nach und nach fühlten sie sich einander verwandt und begriffen, was es hieß, dass sie Brüder waren.

Da hielt auch schon ein Auto, und ein jähes Hupen rief Eric und Iwan die Treppe hinunter und auf die Straße. Als ihre Mutter sie fragte, was denn geschehen und wo ihr Vater geblieben sei, wussten sie nicht, was sie antworten sollten. Erst nachdem kurz vor Mitternacht ein Telegramm von Arthur eingetroffen war, holte sie die beiden aus dem Bett und zwang sie, alles zu erzählen.

Arthur hatte seinen Reisepass mitgenommen und das gesamte Geld vom gemeinsamen Konto abgehoben. Im Telegramm standen nur zwei Sätze: Erstens, es gehe ihm gut, man solle sich keine Sorgen machen. Zweitens, man brauche nicht auf ihn zu warten, er werde sehr lange nicht zurückkommen. Und tatsächlich sollte keiner seiner Söhne ihn wiedersehen, bevor sie erwachsen waren. In den folgenden Jahren aber erschienen die Bücher, deretwegen die Welt Arthur Friedlands Namen kennt.

[zur Inhaltsübersicht]

Das Leben der Heiligen

Ich bekenne. Ich höre ihre Stimmen, aber ich sehe nichts, so sehr blendet die Sonne in den Fenstern. Dass ich Gutes unterlassen. Der Ministrant neben mir gähnt. Und Böses getan habe. Nun muss auch ich gähnen, aber ich unterdrücke es und beiße die Kiefer so fest zusammen, dass mir Tränen in die Augen treten.

Gleich wird das Licht steiler einfallen, dann tritt aus dem Schattenmeer eine kleine Gruppe von Leuten: die fünf alten Frauen, die immer kommen, der freundliche dicke Mann, der nicht ganz so freundliche dicke Mann, die traurige junge Frau und der Fanatiker. Er heißt Adrian Schlüter. Oft schreibt er mir Briefe, von Hand, auf teurem Papier. Von E-Mails hat er offenbar noch nie gehört.

Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, so früh aufzustehen. Dröhnend hebt die Orgel an: Wir loben dich, wir preisen dich. Ich verfehle die meisten Töne, aber das gehört zu meinem Beruf, fast alle Pfarrer singen schlecht. Wir beten dich an. Die Orgel verstummt. Während wir gesungen haben, ist die Sonne gestiegen, in den Fenstern flimmert farbige Helligkeit, dünne Lichtspeere ziehen durch die Luft, in jedem ein Schneegestöber aus Staub. So früh ist es noch, und schon so heiß. Der Sommer steht in seiner gnadenlosen Phase.

Nachlass, Vergebung und Verzeihung gewähre uns der allmächtige und barmherzige Herr. Der Ministrant legt gähnend das Messbuch aufs Pult. Wenn es nach mir ginge, wäre der arme Junge noch im Bett. Es ist Freitag, ich muss heute keine Predigt halten, das ist schon einmal gut. Wort des lebendigen Gottes. Die Gemeinde setzt sich, Martha Frummel kommt nach vorne, achtundsiebzig Jahre alt, jeden zweiten Tag trägt sie morgens vor.

Erster Brief des Apostels Paulus an die Korinther. Als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen, sondern um euch das Zeugnis Gottes zu verkündigen. Martha Frummel ist eine sanfte und gute Frau, vielleicht eine der Gerechten der Welt, aber ihre Stimme klingt wie ein Leierkasten. Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten. Zudem kam ich in Schwäche und in Furcht, zitternd und bebend zu euch. Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte, sondern auf die Kraft des Herrn.

Wort des lebendigen Gottes. Wacklig geht Martha zurück zu ihrem Platz. Meine Gemeinde steht auf, es wird gesungen: Halleluja, halleluja, halleluja, halleluja. Die Sonne blendet nicht mehr, man erkennt die klobigen Bilder im Buntglas: Lamm, starrender Heiland und Brotscheibe im Strahlenkreuz. Diese Kirche ist so alt wie ich, die Wände absichtsvoll schief, der Altar ein unbehauener Granitblock, der aus irgendeinem Grund nicht im Osten steht, sondern auf der Westseite, sodass die Sonne beim Frühgottesdienst nicht, wie es sich gehört, die Gemeinde blendet, sondern mich.

Das Evangelium. In jener Zeit, als Jesus und seine Jünger auf ihrem Weg nach Jerusalem weiterzogen, redete ein Mann Jesus an und sagte: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Meine Stimme klingt nicht schlecht; ich bin gut in meinem Beruf. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes. Ich schlage das Buch zu. Wie passend, aber es ist Zufall, die vorgeschriebene Stelle für den 8. August 2008.