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«Das ist ein Mysterium.»

«Aber –»

«Mysterium bedeutet, dass es uns offen …, geoffenbart wurde. Gott weiß, was du tun wirst. Du bist trotzdem frei. Deshalb bist du verantwortlich für deine Taten.»

«Das passt nicht zusammen.»

«Darum ist es ein Mysterium.»

«Aber wenn Gott weiß, was ich tue, kann ich doch nichts anderes tun. Wieso bin ich dann verantwortlich?»

«Das ist ein Mysterium!»

«Was heißt das?»

«Musst du nicht zur Schule?»

«Entschuldigung.» Der Messdiener steht in der Tür: ein Zisterzienser-Laienbruder namens Franz Eugen Legner. Er hat kleine Augen und ist immer schlecht rasiert. Seit zwei Monaten arbeitet er hier, zuvor war er irgendwo in den dunkelsten Alpen beschäftigt. Er hält die Kirche sauber, aktualisiert unsere Website, spielt Orgel und schickt, ich werde den Verdacht nicht los, dem Bischof Berichte über mich. Ich warte darauf, dass er einen Fehler macht, damit ich mich meinerseits über ihn beschweren kann – ein taktischer Präventivzug. Nur leider macht er keine Fehler. Er ist sehr vorsichtig.

«Du weißt, was du gestern getan hast», sagt er zu dem Jungen.

«Was habe ich denn getan?»

«Egal. Du weißt es. Du erinnerst dich daran.»

«Ja.»

«Und dennoch warst du frei. Du weißt es, und du hättest doch anders handeln können.»

«Weil es gestern war!»

«Aber für Gott», sagt Legner mit weich belegter Stimme, «gibt es nicht heute und nicht gestern. Nicht jetzt, nicht vorhin und nicht in hundert Jahren. Was du tun wirst, weiß er so genau, wie du weißt, was du gestern getan hast.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Das brauchst du auch nicht», sage ich. «Es ist ein Mysterium.» Wider Willen bin ich beeindruckt. Sechzehn Semester, zwei davon auf der Gregoriana in Rom, aber das wäre mir nicht eingefallen.

Legner blickt mich an, als hätte er meine Gedanken gelesen. Triumphierend bleckt er die Zähne. Trotz allem tut er mir leid. Armer dürrer Intrigant, wohin hat deine Schlauheit dich gebracht?

Der Junge hebt seinen Schulrucksack auf, und schon ist er zur Tür hinaus. Sekunden später sehe ich ihn vor dem Fenster die Straße entlangschlurfen. Ich schließe die Augen und durchmische schnell die Farben auf dem Würfel. Dann öffne ich sie wieder und fange an, Ordnung herzustellen.

«Die Registerzüge pfeifen», sagt Legner. Er blickt nicht auf meine Hände, denn täte er es, müsste er beeindruckt sein, und diese Blöße will er sich nicht geben. «An der Orgel. Wir sollten eine Reparatur in Auftrag geben.»

«Vielleicht kann der Herr ein Wunder tun.» Warum in aller Welt habe ich das gesagt? Es war nicht einmal witzig. Die rote Seite ist wiederhergestellt.

Er betrachtet mich lauernd.

«Nur ein Scherz», sage ich müde.

«Er könnte es», sagt Legner.

«Zweifellos.» Auch die gelbe Seite.

Er schweigt, ich schweige.

«Aber er wird es nicht tun», sage ich dann. Die weiße.

«Unmöglich ist es nicht.»

«Nein, unmöglich nicht.»

Wir schweigen beide. Die blaue Seite ist fertig. Die grüne.

«Er könnte es», sagt Legner dann.

«Aber er wird nicht.»

«Das weiß man nie.»

«Nein», sage ich und lege den wiederhergestellten Würfel aus der Hand. «Das weiß man nie.»

Oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich mit kühler Wut vergewissert, dass ich nicht schlecht aussah. Mein Gesicht war ebenmäßig, die Haut passabel, der Körper groß genug, Brust und Kinn breit, die Augen nicht zu klein, und schlank war ich auch. Also woran lag es?

Heute denke ich, es waren Zufälle. Es gibt kein Fatum, und hätte ich zum Beispiel Lisa Anderson an einem anderen Tag oder zumindest auf andere Weise gefragt, alles hätte anders kommen können, und jetzt hätte ich vielleicht eine Familie und wäre Fernsehredakteur oder Meteorologe.

Lisa ging in meine Klasse und saß schräg vor mir. Wenn sie kurze Ärmel trug, sah ich ihre Sommersprossen, und wenn die Sonne im Fenster stand, spielte das Licht auf ihrem glatten braunen Haar. Fünf Tage hatte ich gebraucht, um mir die richtigen Worte zurechtzulegen.

«Wollen wir ins Theater gehen? Wer hat Angst vor Virginia Woolf?»

«Wer hat … was?»

Nicht, dass ich gerne ins Theater gegangen wäre. Ich fand es langweilig, immer war es stickig, und man verstand die Leute auf der Bühne schlecht. Aber jemand hatte mir gesagt, dass Lisa sich dafür interessierte.

«So heißt das Stück.»

Sie betrachtete mich freundlich. Ich hatte nicht gestottert, und es fühlte sich auch nicht so an, als ob ich rot geworden wäre.

«Welches Stück?»

«Im … Theater.»

«Was ist das für ein Stück?»

«Wenn wir es sehen, wissen wir es.»

Sie lachte. Es lief gut. Vor Erleichterung lachte ich auch.

Sie wurde ernst.

Tatsächlich war etwas nicht richtig gewesen an meinem Lachen; ein wenig zu laut und zu hoch, ich war nervös. Schnell versuchte ich, es zu korrigieren und so zu lachen, wie es sich gehörte, doch ich hatte auf einmal vergessen, wie das ging. Als ich merkte, wie seltsam ich klang, wurde ich nun doch rot: Meine Haut prickelte heiß. Um über den Moment hinwegzukommen, lachte ich noch einmal, aber diesmal klang es sogar schlimmer, und plötzlich sah ich mich vor Lisa stehen und sie anstarren und immer noch lachen und mich dabei beobachten, wie ich lachend vor ihr stand und starrte und lachte. Die Röte brannte auf meiner Haut.

Heute gehe es leider nicht, sagte Lisa.

«Aber gerade hast du –»

Leider, sagte sie. Es sei ihr eben eingefallen. Keine Zeit.

«Schade», sagte ich heiser. «Und morgen?»

Sie schwieg eine Sekunde. Leider, sagte sie dann. Auch morgen nicht.

«Übermorgen?»

Leider habe sie viel vor in den nächsten Wochen.

Danach wagte ich es kaum noch, sie von hinten anzusehen. Aber ich konnte nicht verhindern, dass sie weiterhin in meinen Träumen auftauchte. Dort war sie liebevoll, bereitwillig und lauschte jedem meiner Worte. Manchmal waren wir allein im Wald, dann wieder lagen wir auf einer Wiese, manchmal auch waren wir in einem Zimmer, das Licht so schwach, dass ich die Rundung ihrer Schultern, die Umrisse ihrer Hüften, den sanften Fall ihres Haares nur schemenhaft sehen konnte. Wenn ich dann aufwachte, noch benommen vor Lust und schon gequält von Scham, konnte ich nicht begreifen, dass ich gerade eben noch hatte meinen können, so etwas geschähe wirklich.

Ein paar Monate später kam ich auf einer Party mit Hanna Larisch aus der Nebenklasse ins Gespräch. Ich hatte schon die zweite Flasche Bier getrunken, die Luft nahm eine samtig weiche Konsistenz an, und mit einem Mal unterhielten wir uns über den Würfel. Sie besaß auch einen, jeder besaß einen in diesen Jahren, aber wie fast alle hatte sie nie mehr als eine Seite geschafft.

Es sei ganz leicht, erklärte ich, man beginne am besten mit der weißen Fläche, dann setze man auf der blauen und der roten ein T zusammen: Grundkante und Mittelstein. Dann vervollständige man den zweiten Ring, indem man das Mittelstück nach rechts oder links eindrehe, dann bringe man das Mittelstück des dritten Rings an die richtige Stelle, wofür es wiederum mehrere Möglichkeiten gebe: so und so und so, ich zeigte die Handbewegungen. Der Trick liege darin, schnell zu entscheiden, welche Kantenstücke man kippen müsse, dafür gebe es keine Formel, das gehe nur mit Übung und Intuition.

Sie hörte mir zu. Der Würfel war damals auf seinem Zenit, im Fernsehen sprachen Experten über ihn, und in den Magazinen gab es Artikel über die Gewinner der Meisterschaften. Meine Stimme stockte sogar dann nicht, als ich wie absichtslos ihre Schulter berührte; und als ich einen Schritt näher trat, um sie besser hören zu können, denn die Musik war laut, strich sie ihre Haare zurück und sah mich aufmerksam an. Ja, dachte ich plötzlich, so kann es gehen, so macht man es wohl. Ich nahm eine neue Flasche, das Sprechen fiel mir leicht. Und das war das Unglück.