Als der Student in die Kamergerski einbog, hörte er zu pfeifen auf und schritt so kräftig aus, daß Erast Fandorin, schon um nicht allzu verdächtig zu erscheinen, zurückbleiben mußte. Glücklicherweise verlangsamte das »Objekt« kurz vor dem Damenmodesalon »Darzens« den Schritt und blieb dann stehen. Fandorin wechselte die Straßenseite und bezog Posten neben einer Bäckerei, aus der es nach frischen Brötchen duftete.
Fünfzehn, vielleicht auch zwanzig Minuten drückte sich Achtyrzew, der immer nervöser wurde, vor der geschnitzten Eichenholztür des Ladens herum, in den hin und wieder geschäftige Damen hineingingen und aus dem Paketboten umfängliche Schachteln und Pakete herausschleppten. Vor dem Trottoir warteten einige Kutschen, manche sogar mit Wappen an den lackierten Türen. Um vierzehn Uhr siebzehn (Fandorin sah auf die Schaufensteruhr) kam Bewegung in den Studenten. Er stürzte auf eine schlanke Dame mit Hutschleier zu, die eben aus dem Laden getreten war, zog die Mütze und begann, mit den Händen fuchtelnd, auf sie einzureden. Mit aufgesetzter Langeweile überquerte Fando- rin die Straße - warum sollte nicht auch er einmal einen Blick auf die Auslagen bei »Darzens« werfen.
»Jetzt hab ich keine Zeit für Sie!« hörte er die Dame (in einem lila Moirekleid mit Schleppe, letzter Schrei der Pariser Mode) mit klangvoller Stimme sagen. »Später! Kommen Sie gegen acht, wie üblich, dann sehen wir weiter.«
Sie würdigte den erregten Achtyrzew keines weiteren Blickes und begab sich zu einem zweisitzigen Phaeton mit offenem Verdeck.
»Aber Amalia! Erlauben Sie, Amalia Kasimirowna!« rief ihr der Student hinterher. »Mir wäre an einer privatimen Äußerung gelegen!«
»Später! Später!« warf ihm die Dame hin. »Jetzt habe ich es eilig!«
Ein leichter Windstoß lupfte den beinahe schwerelosen Schleier vor ihrem Gesicht, und Fandorin stand wie vom Donner gerührt. Diese Nachtschattenaugen, dieses ägyptische Oval des Gesichts, diesen launischen Lippenschwung - all das kannte er, ein solches Antlitz, einmal erblickt, vergaß man nie wieder. Sie war es, die geheimnisvolle A.B. die dem unglücklichen Kokorin geboten hatte, seine Liebe nie zu verleugnen! Der Fall, so schien es, nahm eine Wendung, geriet in ein vollkommen anderes Licht.
Verloren stand Achtyrzew auf dem Trottoir, zog den Kopf unschön zwischen die Schultern (und war nun krumm, eindeutig krumm! entschied Fandorin), während der Phaeton mit der ägyptischen Königin gemächlich in Richtung Pe- trowka davonfuhr. Es galt eine Entscheidung zu treffen - und da der Student, wie es aussah, vorläufig nichts mit sich anzufangen wußte, winkte Fandorin innerlich ab und ließ ihn stehen; er rannte los, zur Ecke Bolschaja Dmitrowka hinüber, wo eine Reihe Droschken standen.
»Polizei!« zischte er dem Kutscher zu, der verschlafen in Schirmmütze und Wattejacke auf dem Bock saß. »Fahr dem Gespann dort vorn hinterher! Schnell, beweg dich! Keine Angst, du kriegst schon dein Geld.«
Der Kutscher streckte sich, krempelte in übertriebener Beflissenheit die Ärmel auf, ruckte an den Zügeln, blökte auch etwas, und die scheckige Stute bequemte sich und ließ ihre Hufe über das Pflaster klappern.
An der Ecke Roshdestwenka kam ihnen ein mit Brettern beladener Lastkarren entgegengekrochen, der die Fahrbahn in ihrer ganzen Breite versperrte. Kribbelig sprang Fandorin auf, stellte sich gar auf die Zehenspitzen, um den Phaeton, der gerade so durchgeschlüpft war, nicht aus den Augen zu verlieren. Und dies war gut, denn so bekam er zumindest noch mit, wie er in die Bolschaja Lubjanka einbog.
Der liebe Gott war Fandorin gnädig; sie holten den Phaeton unmittelbar vor der Sretenka ein, gerade noch rechtzeitig, um ihn in eine schmale, holprige Gasse abtauchen zu sehen; die Räder hüpften nur so durch die Schlaglöcher. Als der Phaeton hielt, stieß Fandorin seinen Kutscher in den Rücken: Weiterfahren! hieß das, wir fallen sonst auf. Er selbst drehte sich absichtlich zur Seite, spähte aus den Augenwinkeln und bekam immerhin mit, wie die lila Dame vor einer schmucken kleinen Villa von einer hochgewachsenen dienernden Person in Livree empfangen wurde. Gleich hinter der nächsten Ecke entließ Fandorin den Kutscher und kehrte im Schlenderschritt zurück. Nun konnte er die Villa eingehend betrachten: grün gedecktes Mezzanin, Gardinen an den Fenstern, das Portal mit kleinem Vordach. Ein Kupferschildchen am Eingang war nicht zu entdecken.
Dafür saß der Hausknecht mit Schürze und knittriger Mütze auf einer Bank an der Mauer und langweilte sich. Fan- dorin ging zu ihm hin.
»Was ich dich fragen wollte, Alterchen«, sprach er ihn noch im Gehen an, während er das letzte fiskalische Zwanzigkopekenstück aus der Tasche zog, »wem gehört dieses Haus?«
»Das möchtest du gern wissen«, gab der Hausknecht zurückhaltend zur Antwort und schaute Fandorin neugierig auf die Finger.
»Hier hast du. Was ist da vorhin für eine Dame angekommen?«
Der Knecht nahm die Münze entgegen und erwiderte gesetzt: »Das Haus gehört der Generalin Masiowa, aber die Herrschaften wohnen nicht hier, sie vermieten. Und angekommen ist die Mieterin Frau Beshezkaja, Amalia Kasi- mirowna«
»Wer ist sie denn?« Fandorin ließ noch nicht locker. »Wohnt sie schon lange hier? Hat sie oft Gäste?«
Der Hausknecht schaute ihn an, schürzte die Lippen und sagte nichts. Unklar, was in seinem Kopf vorging.
»Paß mal auf, mein Lieber«, sagte er endlich, während er sich erhob und Fandorin überraschend beim Ärmel packte. »Was jetzt passiert.«
Er zerrte den sich sträubenden Fandorin zur Tür des Hauses und riß an der Schnur des bronzenen Glöckchens.
»Untersteh dich!« Der erschrockene Detektiv unternahm einen vergeblichen Versuch, sich zu befreien. »Ich werd dir gleich ... Du weißt wohl nicht, wen du ...?!«
Die Tür öffnete sich, und der livrierte Hüne mit üppigen blonden Koteletten und rasiertem Kinn stand auf der Schwelle - kein Russe von Geburt, das war sofort klar.
»Hier ist wer, der sich für Amalia Kasimirowna interessiert«, hintertrug ihm der Schuft von Hausknecht mit süßlicher Stimme. »Geld hat er dafür geboten. Ich hab’s natürlich nicht genommen. Und da dachte ich, John Karlitsch .«
Der Butler (denn ein solcher mußte er, wenn er Engländer war, sein) maß den Arrestanten mit einem leidenschaftslosen Blick aus kleinen, stechenden Augen, steckte dem Judas wortlos seinen Silberling zu und trat einen Schritt zur Seite.
»Es handelt sich um ein komplettes Mißverständnis!« Fan- dorin mochte sich immer noch nicht in die Lage schicken. »It’s ridiculous! A complete misunderstanding!« wechselte er ins Englische.
»Na nun, wird’s bald!« grölte der Hausknecht von hinten und stieß Fandorin, nachdem er ihn sicherheitshalber noch beim anderen Ärmel gepackt hatte, ins Innere des Hauses.
Fandorin fand sich in einem recht üppigen Vestibül wieder, einem ausgestopften Bären mit Silbertablett direkt gegenüber - letzteres offenbar zu dem Zweck, Visitenkarten darauf abzulegen. Ungerührt blickten die Glasaugen des zottigen Tiers dem konsternierten Registrator ins Gesicht.