»Name? Anliegen?« fragte der Butler knapp mit starkem Akzent, womit er Fandorins passables Englisch vollkommen ignorierte.
Fandorin schwieg; um nichts in der Welt mochte er sein Inkognito preisgeben.
»What’s the matter, John?« ertönte da die Fandorin bereits bekannte wohlklingende Stimme. Auf der mit einem Läufer versehenen Treppe, die wohl in das Mezzanin führte, stand die Hausherrin, die Hut und Schleier inzwischen abgelegt hatte.
»Ah, der holde schwarzbraune Knabe«, versetzte sie schelmisch, an Fandorin gewandt, der sie mit Blicken geradezu verschlang. »Sie sind mir schon auf der Kamergerski aufgefallen. Ziemt es sich, fremde Damen so anzustarren? Aber pfiffig, ich muß schon sagen! Ist mir auf den Fersen geblieben! Student? Oder Müßiggänger?«
»Fandorin, Erast Petrowitsch«, stellte der Gefragte sich vor und schwankte, wie er sich der Dame im weiteren empfehlen sollte; Kleopatra schien sein Verhalten jedoch schon auf ihre Weise gedeutet zu haben.
»Die Dreisten mag ich leiden«, sagte sie lächelnd. »Erst recht, wenn sie so nett aussehen. Aber Spionieren ist nicht fein. Wenn meine Person Sie so sehr interessiert, beehren Sie mich heute abend wieder - auf einen mehr kommt’s nicht an. Dann können Sie Ihre Neugier zur Genüge befriedigen. Und bitte schön im Frack. Bei mir herrschen freizügige Sitten, aber die Herren, so sie keine Militärs sind, haben im Frack zu erscheinen - das ist Gesetz.. «
Der Abend kam, und Erast Fandorin hatte sich in Schale geworfen. Zwar war ihm der väterliche Frack in den Schultern etwas weit, doch Agrafena Kondratjewna, die gute Frau
Gouvernementssekretärin, bei der Fandorin ein Zimmerchen zur Miete bewohnte, steckte ein paar Nadeln entlang der Naht, bis er ordentlich saß - wenigstens, solange man ihn nicht knöpfte. Ein riesiger Kleiderschrank war das einzige gewesen, was der gescheiterte Spekulant dem Sohn vererbt hatte; darin zum Beispiel fünf Paar weiße Handschuhe. Eine Seidenweste von Burgess und Lackschuhe von Pironet schossen den Vogel ab. Auch der nagelneue Zylinder aus dem Hause Blanc war nicht zu verachten, er rutschte allerdings etwas tief in die Stirn. Was nicht weiter schlimm war, man gab ihn am Eingang ab, das genügte. Auf das Stöckchen verzichtete Fandorin - zu gewagt, wie er fand. Er drehte sich vor dem Spiegel im dämm- rigen Flur und war zufrieden, besonders was die vom unbarmherzigen »Lord Byron« ideal fassonierte Taille anging. In der Westentasche lagerte der Silberrrubel, den Gruschin für einen Blumenstrauß spendiert hatte - »einen anständigen, aber ohne Protz«. Die Frage, welchen Protz man sich für einen lausigen Rubel hätte leisten können, verkniff sich Fandorin und beschloß statt dessen, einen halben aus eigener Tasche dazuzulegen, damit es für Veilchen aus Parma reichte.
Der Blumen wegen mußte er nun auch noch eine Droschke bezahlen. Als Erast Fandorin vor dem Palast der Kleopatra anlangte (den Namen fand er für Amalia Kasimirowna Be- shezkaja ausgesprochen passend), war es Viertel vor neun.
Die Gästeschar war schon beisammen. Noch im Vestibül konnte Schriftführer Fandorin, vom Stubenmädchen eingelassen, ein Gewirr aus vielen Männerstimmen hören, dazwischen ließ sich auch die eine silberhelle kristallklare ausmachen, die Stimme der Zauberin. An der Schwelle zögerte Fandorin ein wenig, nahm seinen Mut zusammen und trat nun einigermaßen forsch über sie hinweg; ihm lag daran, den
Eindruck eines gestandenen und weltgewandten Mannes zu erwecken. Die Mühe war umsonst - keiner schenkte dem Eintretenden Beachtung.
Fandorin blickte in einen Salon mit behaglich wirkenden saffianledernen Diwanen, samtbezogenen Stühlen und vornehmen Rauchtischchen, alles sehr stilvoll und modern. Auf einem Tigerfell in der Mitte des Raumes stand die Hausherrin, zur Spanierin herausgeputzt: purpurnes Kleid mit Korsage, eine feuerrote Kamelienblüte im Haar. Sie war so schön, daß es Fandorin den Atem verschlug. Er kam darum nicht gleich dazu, die Gäste näher zu betrachten, sah nur, daß es ausnahmslos Männer waren. Achtyrzew war auch da, er saß ein wenig abseits und schien ziemlich blaß.
»Da ist ja auch mein neuester Verehrer!« rief die Beshez- kaja und sah Fandorin lachend an. »Nun haben wir das Teufelsdutzend voll. Alle vorzustellen dauert mir zu lange, aber sagen Sie, wie Sie heißen, ich habe es schon wieder vergessen, nur daß Sie Student sind, weiß ich noch.«
»Fandorin«, krähte er mit verräterisch zitternder Stimme, und er wiederholte noch einmal, eine Oktave tiefer: »Fan- dorin.«
Alle schauten ihn an, aber eher flüchtig, es war klar, daß der hinzugekommene Grünschnabel niemanden interessierte. Man spürte sofort, daß es in dieser Runde einen Mittelpunkt gab. Untereinander sprachen die Gäste kaum, alle hatten sie nur Augen für die Gastgeberin, und ausnahmslos jeder, selbst der gravitätische alte Herr mit dem Brillantstem, überschlug sich, um die anderen in den Schatten zu stellen und die Aufmerksamkeit der Dame wenigstens für einen Moment auf sich zu lenken. Lediglich zwei der Anwesenden benahmen sich nicht so - der schweigende Achtyrzew, der ständig das Glas an den Lippen hatte und Champagner in sich hineinschüttete, und ein Husarenoffizier: kräftiger Kerl mit schelmischen, etwas glupschenden Augen, lächelndem Mund und blendend weißen Zähnen, ein schwarzes Bärtchen über der Lippe. Er schien sich ordentlich zu langweilen und schaute nur selten zu Amalia hinüber, zog es vor, mit abschätzigem Grinsen die übrigen Gäste zu betrachten. Die Kleopatra war dem Flegel offenbar besonders gewogen, sie rief ihn Ippolit, und allein von dem Blick, den sie ihm ein paar Mal zuwarf, wurde Fan- dorin weh ums Herz.
Plötzlich zuckte er zusammen. Ein aalglatter Herr mit dem weißen Annenkreuz am Hals hatte die eingetretene Konversationspause genutzt, um zu verkünden: »Zwar haben Sie es sich letztens verbeten, Amalia Kasimirowna, über Kokorin herzuziehen, doch ist mir da etwas Interessantes zu Ohren gekommen.«
Er schwieg ein Weilchen und genoß den Effekt: Alle wandten sich ihm zu.
»Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Anton Iwanowitsch, erzählen Sie«, drängte ein Dicker mit hoher Stirn, der aussah wie ein erfolgreicher Advokat.
»Ja, nur zu!« pflichteten die anderen ihm bei.
»Kokorin hat sich nicht auf die simple Art erschossen, er hat amerikanisches Roulette gespielt. In der Kanzlei des Generalgouverneurs hat man es mir heute morgen brühwarm erzählt«, tat der Glatte sich wichtig. »Wißt Ihr, was das ist, amerikanisches Roulette?«
»Ein alter Hut«, sagte Ippolit und hob die Schultern. »Du schnappst dir einen Revolver und steckst eine einzige Patrone rein. Blöd, aber macht was her. Zu dumm, daß es der Amerikaner erfunden hat und nicht unsereins.«
»Und was hat das mit Roulette zu tun, Graf?« Der alte Herr mit dem Stern verstand nicht.
»Pair oder Impair, Rouge oder Noir, Hauptsache, nicht Zero!« brüllte Achtyrzew und lachte gekünstelt, während er Amalia provozierend (so schien es Fandorin zumindest) in die Augen sah.
»Ich habe euch gewarnt: Wer davon redet, fliegt raus!« rief die Gastgeberin ernstlich erbost. »Und er kommt mir nicht mehr ins Haus! Habt ihr endlich was gefunden, worüber ihr euch das Maul zerfetzen könnt!«
Betretenes Schweigen.
»Mich vor die Tür zu setzen werdet Ihr gewiß nicht wagen«, versetzte Achtyrzew in unverändert dreistem Ton. »Ich darf mir hier wohl das Recht herausnehmen, zu sagen, was ich denke.«
»Und wieso, wenn man fragen darf?« erkundigte sich ein bulliger Hauptmann in Gardeuniform.
»Weil er besoffen genug ist, der Milchbart«, trieb Ippolit, eben vom Senior mit Graf tituliert, die Situation entschlossen auf die Spitze. »Wenn Ihr erlaubt, Amelie, befördere ich ihn an die frische Luft.«
»Wenn ich Eurer Sekundanz bedarf, lasse ich es Euch wissen, Ippolit Alexandrowitsch«, erwiderte Kleopatra nicht ohne Bissigkeit und erstickte so die Konfrontation im Keim. »Ich habe die bessere Idee, meine Herren. Wenn keiner von Ihnen in der Lage ist, eine interessante Unterhaltung in Gang zu bringen, sollten wir zum Pfänderspiel übergehen. Das war doch letztens sehr lustig, als Frol Lukitsch verlor und Blumen in den Rahmen sticken mußte und sich die Finger dabei zerstochen hat!«