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»Noch nicht!« erwiderte Fandorin hastig. »Was hatte Ach- tyrzew mit der Sache zu tun? Und was hat das Testament zugunsten von Lady Aster zu bedeuten?«

Das Stimmengewirr in Fandorins Rücken schwoll an, genervt drehte er sich um.

»Ach, mein Ton behagt dir nicht?« fragte Ippolit herausfordernd. Er war dabei, dem betrunkenen Achtyrzew zu Leibe zu rücken. »Dann behagt dir das vielleicht besser?« Und er stieß dem Studenten mit der flachen Hand vor die Stirn - nicht sehr kräftig, doch genug, daß der magere Ach- tyrzew in Richtung Sessel flog und hineinplumpste; dort saß er nun und klapperte fassungslos mit den Augen.

»Hören Sie, Graf, so geht das nicht!« rief Fandorin und eilte auf den Raufbold zu. »Daß Sie stärker sind, gibt Ihnen nicht das Recht zu .«

Doch seine wirre Anklage, die den Grafen wenig zu beeindrucken schien, ging in der schneidenden Stimme der Gastgeberin unter: »Raus hier, Ippolit! Und daß du mir den

Fuß nicht mehr in dieses Haus setzt, bis du wieder nüchtern bist!«

Schimpfend und fluchend polterte der Graf zum Ausgang. Neugierig beäugten die übrigen Gäste den schlaff im Sessel hängenden Achtyrzew, ein Häufchen Elend; er machte nicht den Versuch, sich zu erheben.

»Sie scheinen mir hier der einzige normale Mensch zu sein«, raunte Amalia Fandorin zu, während sie zur Tür ging. »Schaffen Sie ihn fort. Nur nicht fallenlassen.«

Beinahe augenblicklich erschien der Hüne John, der die Livree mit einem schwarzen Gehrock und gestärkter Chemisette getauscht hatte. Er half, den Studenten zur Tür zu bugsieren, und stülpte ihm den Zylinder auf den Kopf. Die Beshezkaja kam nicht heraus, sich zu verabschieden, und die finstere Physiognomie des Butlers sagte Fandorin, daß es Zeit war zu gehen.

FÜNFTES KAPITEL,

in welchem unseren Helden ernstliche Unannehmlichkeiten erwarten

Draußen an der frischen Luft kam Achtyrzew wieder einigermaßen zu sich - er stand wacker auf den Füßen, schwankte nicht, so daß Fandorin es riskierte, seinen Arm loszulassen.

»Laufen wir vor zur Sretenka«, schlug er vor. »Da setze ich Sie in eine Droschke. Haben Sie es weit bis nach Hause?«

»Nach Hause?« Im flackernden Licht der Petroleumlaterne wirkte das bleiche Gesicht des Studenten wie eine Maske. »Auf gar keinen Fall nach Hause! Lassen Sie uns irgendwo anders hinfahren, ja? Mir ist nach Reden zumute. Sie haben ja gesehen, was . die mit mir machen. Wie heißen Sie? Ach ja, Fandorin, komischer Name. Ich heiße Achtyr- zew. Nikolai Achtyrzew.«

Fandorin verbeugte sich andeutungsweise, während er eine heikle moralische Frage zu bedenken hatte: War es in Ordnung, Achtyrzews labilen Zustand auszunutzen, um ihm die nötigen Auskünfte zu entlocken? Immerhin schien der »Grumme« ja selbst nicht abgeneigt, aus dem Nähkästchen zu plaudern.

Fandorin entschied, daß es in Ordnung war. Die Kompliziertheit des zu ermittelnden Falles stand dafür.

»Das >Krim< ist nicht weit von hier«, fiel Achtyrzew ein. »Da brauchen wir kein Gefährt, das schaffen wir zu Fuß. Ist natürlich eine Kaschemme, aber die Weine sind passabel. Gehen wir hin, ja? Ich lade Sie ein.«

Fandorin ließ sich nicht bitten, sie liefen langsam (denn der Student schwankte beim Laufen doch ein bißchen) durch die dunkle Gasse auf die weit vor ihnen blinkenden Lichter der Sretenka zu.

»Bestimmt halten Sie mich für einen Feigling, Fandorin, nicht wahr?« fing Achtyrzew mit schwerer Zunge wieder an. »Weil ich den Grafen nicht zum Duell gefordert, die Beleidigung hingenommen, den Betrunkenen gespielt habe. Ich bin kein Feigling, ich könnte Ihnen Dinge erzählen, Sie würden sich umgucken . Er wollte mich ja nur provozieren. Das hat womöglich sie ihm eingeflüstert, um mich loszuwerden und sich dabei nichts nachsagen zu lassen . Oh, diese Frau, wenn Sie wüßten! Und dem Surow ist es egal, ob er eine Fliege totschlägt oder einen Menschen. Jeden Morgen übt er eine Stunde lang Pistolenschießen. Es heißt, er trifft ein Fünfkopekenstück auf zwanzig Schritt. Soll das etwa ein Duell sein? Er ginge kein Risiko ein. Das wäre der blanke Mord, nur mit hübscherem Etikett. Und hinterher geschähe ihm gar nichts, er windet sich aus allem raus. Wäre nicht das erste Mal. Er fährt einfach ein Weilchen im Ausland spazieren. Ich aber möchte leben, ich hab’s mir verdient.«

Sie bogen von der Sretenka in eine Seitenstraße ab, die unansehnlich, aber immerhin mit Gas- statt Petroleumlaternen versehen war; ein Stück voraus sah man ein dreistöckiges Gebäude mit hellerleuchteten Fenstern. Das muß das »Krim« sein! dachte Fandorin, und das Blut stockte ihm im Herzen - zuviel hatte er schon gehört von diesem in ganz Moskau berüchtigten Lokal.

An dem breiten, im grellen Lampenlicht liegenden Portal hielt niemand sie auf. Mit geübter Geste stieß Achtyrzew die hohe, mit Schnitzwerk verzierte Tür auf. Wärme schlug ihnen entgegen, Küchen- und Schnapsdunst, dazu ein tosendes Stimmengewirr und schluchzende Geigen.

Sie ließen die Zylinder an der Garderobe und liefen sogleich einem flinken Burschen in weinroter Bluse in die Arme, der Achtyrzew mit »Euer Erlaucht« titulierte und einen allerbesten, »extra reservierten« Tisch versprach.

Der Tisch stand an der Wand und zum Glück in einiger Entfernung von der Bühne, wo ein Zigeunerchor grölte und mit Schellen rasselte.

Fandorin, den es zum ersten Mal in eine echte Lasterhöhle verschlagen hatte, drehte unentwegt den Kopf nach allen Seiten. Ein buntes Publikum war zugegen, nüchtern anscheinend niemand mehr. Kaufleute und Börsenspekulanten mit ihren pomadisierten Köpfen gaben den Ton an - daß sie in diesen Zeiten das nötige Geld hatten, wußte man ja. Doch gesellten sich zu ihnen auch einige Subjekte von deutlich herrschaftlicherem Aussehen, sogar das goldene Monogramm eines Flügeladjutanten blitzte Fandorin von einer Epaulette an. Das Hauptaugenmerk des Kollegienregistrators galt allerdings den jungen Damen, die sich zu einem setzten, sobald nur der geringste Wink sie dazu aufforderte. Die Tiefe ihrer Dekolletes ließ Fandorin erröten, und die Röcke waren so geschlitzt, daß die runden Knie in den durchbrochenen Strümpfen auf schamloseste Weise hervorschauten.

»Was ist, haben die Dämchen es Ihnen angetan?« fragte Achtyrzew grinsend, nachdem er beim Kellner Schnaps und Wein bestellt hatte. »Seit ich Amalia kenne, zählen die für mich gar nicht mehr zum weiblichen Geschlecht. Wie alt sind Sie, Fandorin?«

»Einundzwanzig«, erwiderte Fandorin, ein Jährchen zugebend.

»Ich bin dreiundzwanzig. Und ich hab schon einiges hinter mir. Versteifen Sie sich bloß nicht auf diese Huren, sie

sind das Geld und die Zeit nicht wert. Danach fühlt man sich nur um so mieser. Wenn man schon lieben muß, dann bitte schön eine Königin! Aber wozu erzähle ich Ihnen das? Sie sind doch auch nicht zufällig bei Amalia aufgetaucht? Hat sie Ihnen den Kopf verdreht? Das mag sie, sie sammelt Männer, und ständig braucht sie neue Exponate. Wie heißt es in der Operette so schön: Elle ne pense qu’a exciter les hommes . Aber alles hat seinen Preis, und ich habe ihn bezahlt. Soll ich Ihnen eine feine Geschichte erzählen? Sie gefallen mir irgendwie, Sie schweigen so schön. Und es kann Ihnen nicht schaden zu erfahren, was für eine Frau das ist. Vielleicht kommen Sie noch zur Besinnung, ehe sie Sie verschlingt, wie

sie mich verschlungen hat. Oder hat es Sie schon erwischt,

Fandorin, he? Was haben Sie ihr denn heute geflüstert?«

Fandorin schlug die Augen nieder.

»Also hören Sie zu«, begann Achtyrzew. »Sie haben mich vorhin der Feigheit verdächtigt, weil ich von Ippolit die Finger gelassen habe, ihn nicht zum Duell fordern wollte. Dabei hatte ich schon ein Duell, und was für eins, das kann sich

Ihr Ippolit im Traum nicht vorstellen. Haben Sie gehört, wie strikt sie verboten hat, über Kokorin zu sprechen? Das hat seinen Grund! Sie hat Blut am Stecken, fürwahr! Ich natürlich auch. Nur daß ich für meine Sünden schon gebüßt habe, mit Todesangst. Kokorin war mein Studienkollege, er verkehrte auch bei Amalia. Früher waren wir befreundet, aber zuletzt sind wir ihretwegen zu Feinden geworden. Kokorin war frecher als ich, sah auch niedlicher aus, nur, entre nous, ein Krämer bleibt immer ein Krämer, ein Plebs, auch wenn er an der Universität studiert. Amalia hat ihren Spaß mit uns getrieben - mal zog sie den einen vor, mal den anderen. So ist sie: Mal sagt sie Nicolas und duzt dich, du fühlst dich in den Favoritenstand gehoben, und dann fällst du in Ungnade wegen irgendeiner Kleinigkeit, sie verbietet dir eine Woche lang, ihr unter die Augen zu treten, siezt dich, ist förmlich bis dorthinaus. Wer einmal bei ihr an der Angel hängt, kommt nicht wieder los, das ist ihre Politik.«