Und dann der Morgen. Pierre kam - geckenhaft gekleidet, mit weißer Weste, äußerst aufgekratzt. Er war ein Glückskind, anscheinend hoffte er auch diesmal wieder Glück zu haben. Wir würfelten bei mir im Arbeitszimmer. Er kam auf neun Augen, ich auf drei. Darauf war ich gefaßt gewesen. >Ich tue keinen Schritt mehr<, sagte ich. >Lieber sterbe ich hier.< Ich ließ die Trommel rotieren, setzte mir die Mündung an die Brust. >Halt!< rief er. >Nicht ins Herz. Wenn die Kugel abdriftet, quälst du dich ewig. Besser an die Schläfe oder in den Mund.< - >Danke der Fürsorge<, sagte ich und haßte ihn in dem Moment so, daß ich ihn am liebsten abgeknallt hätte, ohne jedes Duell. Aber ich folgte seinem Rat. Nie werde ich dieses Klicken vergessen, beim ersten Mal. Das fuhr mir so ins Ohr, ich hätte .«
Achtyrzew schüttelte sich und goß wieder ein. Die Sängerin, eine fette Zigeunerin mit goldglänzendem Schal, trug jetzt mit tiefer Stimme etwas Langsames, zu Herzen Gehendes vor.
»Und dann hörte ich Pierre sagen: >Gut, jetzt bin ich dran. Gehen wir spazieren.< Erst da wurde mir bewußt, daß ich noch am Leben war. Wir liefen zur Schwiwaja Gorka hinauf, von wo man den Blick auf die Stadt hat. Kokorin immer voraus, ich zwanzig Meter hinter ihm. Knapp vor dem Abhang blieb er stehen, das Gesicht von mir abgewandt. Dann hob er die Hand mit der Pistole so, daß ich sie sehen konnte, drehte die Trommel. Zack! hatte er sie an der Schläfe - und klick. Ich hatte gewußt, daß ihm nichts passieren würde, ich hatte es nicht einmal anders zu hoffen gewagt. Danach würfelten wir neu - und wieder traf es mich. Wir liefen zur Jausa hinunter, dort war keine Menschenseele. Ich kletterte auf einen Brückenpfeiler, um mich nachher gleich ins Wasser fallenzulassen . Noch einmal ging es gut. Wir machten, daß wir davonkamen. Pierre meinte: >Irgendwie wird es langweilig. Wollen wir die Spießer ein bißchen schockieren?< Er hielt sich großartig, das muß man ihm lassen. Wir bogen in eine Gasse, wo mehr Betrieb war, Kutschen verkehrten. Ich wechselte auf die andere Straßenseite. Kokorin nahm den Hut ab, verbeugte sich nach rechts und nach links, hob dann die Hand in die Höhe, ließ die Trommel kreisen - kein Schuß. Jetzt mußten wir die Beine in die Hand nehmen: Geschrei, Aufruhr, kreischende Damen. Wir verzogen uns in eine Einfahrt - das war schon in der Marosejka -, würfelten. Und was glauben Sie? Wieder verlor ich! Er hatte zwei Sechsen und ich zwei Einsen, ungelogen! Das war’s! dachte ich, Schluß, aus, finito! Ein besseres Symbol konnte es nicht geben: dem einen die volle Hand, dem anderen gar nichts. Den dritten Anlauf nahm ich vor der Kosma-und-Damian-Kirche, wo ich getauft worden bin. Ich stellte mich auf die Freitreppe, wo die Bettler hocken, gab jedem einen Rubel, nahm die Mütze ab . Als ich die Augen wieder aufschlug, lebte ich immer noch. Und einer von den Krüppeln tat einen Spruch: >Die Seele juckt, der Herrgott schluckt<, meinte er zu mir. Wortwörtlich, das hab ich mir gemerkt. Wir also schleunigst weg und weiter. Kokorin konnte es beim nächsten Mal nicht vornehm genug haben, die Konditorei auf dem Neglinny mußte es sein, direkt neben der Go- loftejew-Passage. Er geht hinein, sucht sich einen Platz, ich stehe draußen vor dem Fenster. Er sagt etwas zu einer Dame am Nebentisch, sie lächelt. Er zieht den Revolver, drückt ab - alles gut zu sehen. Die Dame kriegt sich nicht ein vor Lachen. Da hat er den Revolver wieder eingesteckt und mit ihr noch ein bißchen geplaudert, seinen Kaffee ausgetrunken. Ich stand wie versteinert, empfand überhaupt nichts mehr, hatte nur den einen Gedanken: Jetzt müssen wir wieder würfeln. Das haben wir dann auf dem Ochotny getan, neben dem Hotel »Loskutnaja«, und da traf es ihn. Ich hatte eine Sieben, er eine Sechs. Sieben und sechs, das ist nur ein Auge Unterschied. Bis zu Gurowskis Gasthaus sind wir zusammen gegangen. Da, wo sie das Historische Museum bauen, trennten wir uns - er spazierte in den Alexandergarten rein, die Allee lang, und ich blieb draußen vor dem Zaun. Das letzte, was er zu mir sagte, war: >Was sind wir für Idioten, Kolja. Wenn’s jetzt noch mal gut geht, ist Feierabend.< Ich wollte ihn aufhalten, Gott ist mein Zeuge, aber ich hab’s nicht getan. Warum, weiß ich nicht. Nein, falsch, geschwindelt, ich weiß es sehr wohclass="underline" Es war die pure Gemeinheit. Einmal soll er ruhig noch die Trommel drehen, dachte ich, hinterher sehen wir weiter, vielleicht lassen wir’s ja wirklich gut sein. Das erzähle ich nur Ihnen, Fandorin. Ich komme mir vor wie zur Beichte .«
Achtyrzew trank wieder, die Augen hinter dem Zwicker waren rot und trübe. Atemlos wartete Fandorin, daß die Geschichte weiterging, obwohl ihm das, was nun kommen mußte, mehr oder weniger bekannt war. Achtyrzew zog eine Zigarre aus der Tasche, rieb mit zitternder Hand ein Zündholz an. Es war auffällig, wie wenig die lange, dicke Zigarre zu dem groben Jungengesicht paßte. Achtyrzew zertrieb mit der Hand die Rauchwolke vor seinen Augen und sprang plötzlich auf.
»Ober, die Rechnung! Ich halte es hier nicht mehr aus. Der Lärm, die Luft!« Er zerrte an seinem Seidenschlips. »Wir sollten das Lokal wechseln. Oder uns die Beine vertreten.«
Vor dem Eingang blieben sie stehen. Die Straße war düster und leer, alles Licht in den Häusern, mit Ausnahme des »Krim«, erloschen. In der nächststehenden Laterne flackerte und zuckte die Gasflamme.
»Oder doch lieber nach Hause?« stammelte Achtyrzew undeutlich mit zwischen den Lippen klemmender Zigarre. »Hier um die Ecke muß es Kutschen geben!«
Die Tür ging auf, heraus trat ihr Tischnachbar von eben, der weißäugige Staatsdiener mit schiefsitzender Mütze. Er hickste laut, kramte in der Tasche seines Uniformrocks und holte eine Zigarre hervor.
»Dürfte ich um ein Feuerchen bitten?« fragte er und näherte sich ihnen. Fandorin meinte einen leichten, irgendwie baltischen Akzent gehört zu haben.
Achtyrzew klopfte sich auf die eine, dann auf die andere Tasche, dort klapperten leise die Zündhölzer. Fandorin wartete geduldig. Da plötzlich ging mit dem Weißäugigen eine unbegreifliche Verwandlung vor sich: Er schien zu schrumpfen und ein wenig einzuknicken. Im allernächsten Moment lag wie von ungefähr ein kurzes, flaches Messer in seiner Hand, das der Beamte mit knapper, wippender Bewegung in Achtyrzews rechte Seite stieß.
Das weitere geschah sehr schnell, binnen zwei, drei Sekunden, aber Erast Fandorin schien es, als stünde die Zeit still. Er nahm so manches wahr, dachte so manches, nur sich vom Fleck zu rühren vermochte er nicht; es war, als hätte das Aufblitzen der stählernen Klinge ihn hypnotisiert.
Das erste, was Fandorin durch den Kopf ging, war: Er hat die Leber getroffen - und sogleich tauchte, wer weiß aus welchen Tiefen des Gedächtnisses, ein Satz aus dem Gymnasiallehrbuch für Biologie vor ihm auf: Die Leber ist diejenige Innerei im tierischen Körper, worin Blut und Galle sich sondern. Als nächstes sah er Achtyrzew sterben. Fandorin hatte nie zuvor jemanden sterben sehen, doch daß Achtyrzew starb, wußte er aus irgendeinem Grund genau. Sein Blick war vollkommen gläsern geworden, die Lippen zuckten im Krampf, und ein dünner Strahl kirschroten Bluts kam zwischen ihnen hervorgeschossen. Langsam und, wie es Fando- rin schien, geradezu elegant zog der Beamte das Messer zurück, dessen Klinke nun nicht mehr blitzte; ganz langsam drehte er sich zu Fandorin um, und sein Gesicht war plötzlich sehr nah: die weißen Augen mit den schwarzen Pupillenpunkten, die schmalen, blutleeren Lippen. Letztere bewegten sich, sprachen ein vernehmliches Wort: »Asasel«. Und dies war der Moment, da die Zeit, die sich einer Feder gleich gedehnt hatte, an die Grenze ihrer Dehnbarkeit gekommen war, sie entspannte sich nun blitzartig und fuhr Fandorin brennend in die rechte Seite, so heftig, daß er einfach nach hinten umfiel und mit dem Kopf gegen das Geländer der Eingangstür schlug. Was war das? Wer ist noch mal Asasel? dachte Fandorin, und: Träume ich etwa? Dann dachte er: Jetzt hat er mit seinem Messer Lord Byron getroffen. Fischbein. Für die gertenschlanke Taille.