Die Tür wurde aufgestoßen, eine lärmende, lachende Gesellschaft drängte heraus.
»Oho, meine Herren, geben Sie acht, hier haben wir ja ein Schlachtfeld, das reinste Borodino! Es hat sie umgehauen, die Guten. Na, wer nicht zu trinken versteht!«
Fandorin stützte sich auf, eine Hand gegen die feuchte, heiße Hüfte gepreßt, um nach dem Weißäugigen zu sehen.
Doch seltsam, der Weißäugige war weg. Achtyrzew lag da, wie er umgefallen war, kopfüber auf den Treppenstufen. Der Zylinder lag auch da, er war ein wenig weitergerollt, nur der Beamte fehlte, war spurlos verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst. Und kein Mensch sonst war auf der Straße zu sehen, die Laternen brannten trübe.
Plötzlich ging mit diesen Laternen etwas Merkwürdiges vor. Sie drehten sich, kippten, erst wurde es ganz hell - und schließlich ganz finster.
SECHSTES KAPITEL,
in welchem ein Mann der Zukunft auftritt
»Liegenbleiben, mein Bester, nur ja liegenbleiben!« sagte Xa- veri Gruschin noch auf der Schwelle, als Fandorin in seiner Verlegenheit die Beine vom harten Diwan nehmen und auf den Boden stellen wollte. »Was hat der Doktor Ihnen befohlen? Ich weiß es, ich habe mich erkundigt. Nach der Entlassung zwei Wochen strengste Bettruhe, damit der Schnitt ordentlich verheilen und das erschütterte Gehirn wieder an Ort und Stelle rutschen kann. Und Sie liegen noch keine zehn Tage!«
Er setzte sich und rieb mit einem karierten Taschentuch seine puterrote Glatze trocken.
»Uff, die Sonne brennt, brennt wirklich ganz hübsch. Schauen Sie, ich habe Ihnen Marzipan mitgebracht und Kirschen, ganz frisch, wohl bekomm’s! Wo soll ich es hinlegen?«
Der Kriminalamtsvorsteher sah sich suchend in dem winzigen Kämmerchen um, in dem der Kollegienregistrator logierte. Für das Bündel mit den Mitbringseln war nirgends Platz: Auf dem Diwan lag der Mieter, auf dem Stuhl saß Xa- veri Gruschin selbst, auf dem Tisch türmten sich Bücher. Andere Möbel gab es nicht - auch keinen Kleiderschrank. Was dort hineingehört hätte, hing samt und sonders an Nägeln, die Fandorin in die Wand geschlagen hatte.
»Tut’s denn noch weh?«
»Kein bißchen!« erwiderte Fandorin, was ein wenig geflunkert war. »Von mir aus können die Fäden morgen schon raus. Es ist ja nur ein bißchen über die Rippen geschlittert, mehr nicht. Und der Kopf ist auch ganz in Ordnung.«
»Na, na, nehmen Sie sich Zeit mit dem Gesundwerden, das Gehalt läuft ja weiter.« Gruschin zog ein reuiges Gesicht. »Seien Sie mir nicht böse, mein Bester, daß ich erst so spät aufkreuze. Bestimmt haben Sie schon schlecht gedacht von dem Alten - zum Rapportschreiben kommt er gleich ins Krankenhaus gerannt, und nachher, wenn alle Schuldigkeit getan ist, läßt er sich kein zweites Mal blicken. Beim Arzt habe ich Erkundigungen einholen lassen, das schon, aber für einen Besuch war einfach keine Zeit. Wenn Sie wüßten, was im Amt derzeit für ein Trubel ist! Tag und Nacht, ohne Übertreibung.« Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf und senkte vertraulich die Stimme: »Ihr Achtyrzew war nicht irgendwer, er war der leibliche Enkel Seiner Durchlaucht Kanzler Korschakow.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Der Vater ist Botschafter in Holland, verheiratet in zweiter Ehe, so daß Ihr Intimus in Moskau bei der Tante gewohnt hat, der Fürstin Kortschakowa, im eigenen Palazzo an der Gontscharnaja. Die Fürstin ist voriges Jahr dahingegangen, er hat alles geerbt, dabei stand er sich vorher schon gut, von der seligen Frau Mutter her. Ach, hat das einen Wind gegeben bei uns, ich kann Ihnen sagen. Zuallererst sollte der Vorgang dem Generalgouverneur unterstellt werden, Fürst Dolgo- ruki persönlich, aber leider war da gar kein Vorgang, man wußte überhaupt nicht, wie man der Sache beikommen sollte. Den Mörder hat außer Ihnen keiner gesehen. Die Be- shezkaja, sagte ich Ihnen letztens schon, ist wie vom Erdboden verschwunden. Das Haus leer. Keine Diener, keine Papiere. Da kann man lange suchen: Weder weiß einer, woher sie kommt, noch, wer sie eigentlich ist. Dem Paß nach eine Adlige aus Wilna. Wir haben angefragt - sie ist dort nicht gemeldet. So sieht’s aus. Vorige Woche ruft mich Seine Exzellenz zu sich. >Nimm’s mir nicht krumm, Xaveri<, sagt er, >ich kenne dich seit langem und weiß deine Gewissenhaftigkeit zu schätzen, aber der Fall ist eine Nummer zu groß für dich. Aus Petersburg kommt ein Sonderermittler, zur besonderen Verfügung des Gendarmeriechefs und Vorstehers der Dritten Abteilung, Seiner Exzellenz Generaladjutant La- wrenti Arkadjewitsch Misinow. Was das für ein Vögelchen ist, kannst du dir denken! Einer vom neuen Schlag, Intellektueller, Mann der Zukunft. Geht streng nach der Wissenschaft vor. Ein Meister in kniffligen Fällen, will uns beiden was vormachen.<« Xaveri Gruschin grunzte böse. »Ein Mann der Zukunft also, während Gruschin nun mal ein Mann der Vergangenheit ist. So sieht’s aus. Vor drei Tagen ist er eingetroffen in aller Frühe, das war wohl der Mittwoch, der Zweiundzwanzigste. Iwan Franzewitsch Brilling heißt er, seines Zeichens Staatsrat. Und das mit dreißig Jahren! Seither geht’s rund bei uns. Heute haben wir Sonnabend, und trotzdem bin ich seit neun im Dienst. Und gestern haben wir bis elf in der Nacht gesessen und sogenannte Schemata gekritzelt. Das Zimmer, wo wir immer unseren Tee getrunken haben, wissen Sie noch? Anstelle des Samowars steht da jetzt ein Telegrafenapparat, und ein Telegrafist sitzt davor und schiebt rund um die Uhr Dienst. Da kann man eine Depesche bis nach Wladiwostok schicken oder meinetwegen nach Berlin, Antwort sofort. Die bestallten Agenten hat er zur Hälfte davongejagt, hat seine Leute aus Petersburg mitgebracht, die hören nur auf ihn. Mich hat er hochnotpeinlich ausgefragt und die Ohren dabei gespitzt. Erst dachte ich, er schickt mich in den Ruhestand, aber nein, Kriminalvorsteher Gruschin darf sich einstweilen noch nützlich machen. Ach, übrigens bin ich ja ... bin ich ja an sich auch gekommen, mein Lieber, weil nämlich ...«, Gruschin fing an zu drucksen, »ja, weil ich Sie vorwarnen wollte. Er hat nämlich die Absicht, heute noch hier aufzutauchen, zur persönlichen Befragung. Da braucht Ihnen aber nicht bange zu sein, man wirft Ihnen nichts vor. Sie haben ja sogar in Erfüllung Ihrer Pflichten eine Verwundung davongetragen. Nur, seien Sie so lieb, hauen Sie den Alten nicht in die Pfanne. Wer konnte denn ahnen, daß die Sache so ausgehen würde .«
Fandorin maß seine ärmliche Behausung mit einem traurigen Blick. Einen schönen Eindruck würde diese Petersburger Persönlichkeit von ihm bekommen!
»Vielleicht sollte ich selber zu ihm ins Amt fahren? Mir geht es schon ganz fabelhaft, ehrlich!«
»Unterstehen Sie sich!« Der Kriminalamtsvorsteher wedelte abwehrend mit den Händen. »Soll denn der Chef gleich wissen, daß ich hier war, Sie zu alarmieren? Schön liegenbleiben. Er hat Ihre Adresse notiert, bestimmt taucht er heute noch hier auf.«
Der »Mann der Zukunft« kam am Abend, zwischen sechs und sieben, so daß Fandorin Zeit gehabt hatte, sich gründlich vorzubereiten. Zur Wirtin, Agrafena Kondratjewna, hatte er gesagt, ein General rücke an, Malaschka solle also den Fußboden im Flur wischen, die morsche Truhe entfernen und sich vor allem unterstehen, Kohlsuppe zu kochen. Seinem eigenen Zimmer verlieh der Rekonvaleszent einigen Aufputz: Die Kleider an den Nägeln wurden vorteilhafter drapiert, die Bücher kamen unters Bett, einzig ein französischer Roman sowie David Humes »Untersuchung über den menschlichen Verstand« im Original und die »Aufzeichnungen eines Pariser Ermittlers« von Jean Debray blieben auf dem Tisch liegen, später tauschte Fandorin noch den De- bray gegen eine »Anleitung zum richtigen Atmen durch den echten indischen Brahmanen Herrn Chandra Johnson« aus, nach dessen Maßgaben er allmorgendlich eine den Geist stärkende Gymnastik betrieb. Sollte der Meisterdetektiv sehen, daß hier einer wohnte, der zwar arm, aber nicht liederlich war. Um die Schwere seiner Verletzung hervorzuheben, entlieh er sich aus Agrafena Kondratjewnas Vorräten ein Fläschchen mit irgendeiner Mixtur, das er neben dem Diwan auf den Stuhl stellte, wickelte sich einen weißen Schal um den Kopf und streckte sich so auf seinem Krankenlager aus. Leidgeprüft und tapfer wollte er wirken - dafür schien nun alles im Lot zu sein.