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»Treten Sie ein, Fandorin, was stehen Sie da auf der Schwelle herum!« forderte der neue Herr des Kabinetts den verschüchterten Fandorin auf. »Geflickt und verarztet? Prima! Sie sind mir direkt unterstellt. Einen Tisch muß ich

Ihnen nicht zuweisen - zum Sitzen werden Sie ohnehin nicht kommen. Schade, daß Sie die Konferenz verpaßt haben, wir hatten eine interessante Diskussion über diesen Asasel aus Ihrem Rapport.«

»Ach!« Fandorin horchte auf. »Gibt es den wirklich? Hab ich mich nicht verhört? Ich hatte schon an eine Täuschung geglaubt.«

»Nein, keine Täuschung. Asasel, so heißt ein gefallener Engel. Was hatten Sie für eine Note in Religion? Sagen Ihnen die Sündenböcke noch etwas? Von denen gab es, falls Sie sich entsinnen, zwei. Der eine war für Gott bestimmt, der andere für Asasel, um ihn zu besänftigen. Bei den Juden im Buch Henoch lehrt Asasel die Menschen allerlei unnütze Dinge: die Männer das Kriegführen und Waffenbauen, die Frauen das Schminken und Abtreiben. Mit einem Wort, ein rebellierender Dämon, ein Geist der Geächteten.«

»Und was kann das bedeuten?«

»Ein Kollegienassessor, einer von euch Moskauern, hat gleich eine ganze Verschwörungstheorie entwickelt, von wegen jüdischer Geheimbund und so weiter. Vom Synednum der Juden hat er gefaselt und vom Blut der Christenkinder. Mit der Beshezkaja als Tochter der Israeliten und Achtyrzew als Lamm, geopfert auf dem Altar des jüdischen Gottes. Kompletter Schwachsinn. Diese judeophoben Wahnvorstellungen kenne ich aus Petersburg nur zu gut. Sowie ein Unglück geschieht und die Gründe nicht gleich klar sind, kommt die Rede auf das Synednum.«

»Und was ist Ihre Ansicht, Chef?« Fandorin gebrauchte die ungewohnte Anrede nicht ohne einen heiligen Schauer.

»Wenn Sie bitte herschauen wollen!« Brilling war vor eine der Tafeln getreten. »Die vier Kreise da oben - das sind die vier in Frage kommenden Versionen. Der erste Kreis wie

Sie sehen, mit Fragezeichen, es ist die unwahrscheinlichste Version: der Mörder ein manisch verwirrter Einzelgänger, irgendeinem Dämonismus anhängend, Achtyrzew und Sie als seine zufälligen Opfer. Hier kommen wir so lange nicht weiter, wie keine neuen, vergleichbaren Verbrechen geschehen. Ich habe telegrafisch in allen Gouvernements angefragt, ob ähnliche Fälle bekannt sind. Was ich stark bezweifle. Wenn ein Täter dieser Sorte schon mal aufgetaucht wäre, wüßte ich davon. Der zweite Kreis mit den Buchstaben AB - das ist Amalia Beshezkaja. Sie ist zweifellos verdächtig. Von ihrem Haus aus hätte man Ihnen und Achtyrzew leicht bis ins >Krim< folgen können. Außerdem ist die Verdächtige flüchtig. Das Motiv für den Mord wäre allerdings unklar.«

»Sie ist geflohen, also steckt sie in der Sache drin«, tat Fan- dorin eifrig seine Meinung kund. »Das heißt, der Weißäugige kann kein Einzeltäter sein.«

»Das ist nicht gesagt, durchaus nicht. Wir wissen inzwischen, daß die Beshezkaja unter falschem Namen und mit falschem Paß hier gewohnt hat. Vermutlich eine Abenteurerin. Auf Kosten wohlhabender Gönner lebend. Aber ein Mord, und noch dazu von derart geübter Hand? Ihrem Bericht zufolge haben wir es mit keinem Dilletanten, sondern mit einem hochprofessionellen Mörder zu tun. Dieser Stich in die Leber - das war Maßarbeit, präzise wie von einem Uhrmacher ausgeführt. Ich war im Leichenschauhaus, hab mir den toten Achtyrzew angesehen. Wäre das Korsett nicht gewesen, lägen Sie jetzt neben ihm, und die Polizei glaubte an einen Raubmord oder eine Messerstecherei unter Betrunkenen. Doch zurück zur Beshezkaja. Jemand aus der Clique könnte sie genausogut nachträglich von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt haben, das >Krim< ist ja nur ein paar Minuten zu Fuß von ihrem Haus entfernt. Es gab Aufsehen: jede

Menge Polizei, aufgescheuchte Gaffer. Jemand aus der Dienerschaft, oder von mir aus der Hausknecht, hat den Toten gesehen, in ihm den Abendgast der Beshezkaja erkannt und sie benachrichtigt. Und sie, klug genug, ein polizeiliches Verhör und die unweigerliche Enttarnung abzusehen, taucht sofort unter. Zeit genug hatte sie dafür - Ihr guter Gruschin ist mit der Vorladung erst am nächsten Nachmittag bei ihr aufgetaucht. Ja, ja, ich weiß, Sie hatten die Gehirnerschütterung, sind nicht gleich wieder bei Bewußtsein gewesen. Bis dann der Bericht diktiert war und der Herr Amtsvorsteher sich am Kopf gekratzt hatte . Natürlich habe ich die Beshez- kaja inzwischen zur Fahndung ausschreiben lassen. In Moskau wird sie nicht mehr sein. Ich denke, auch in Rußland nicht mehr - die Sache ist zehn Tage her, das dürfte reichen. Wir sind dabei, eine Liste ihrer Gäste an jenem Abend aufzustellen, doch da es sich hier zumeist um sehr reputierliche Herrschaften handelt, müssen wir diskret vorgehen. Ernsthaft verdächtig erscheint mir nur einer.«

Brilling wies mit seinem Stock in den dritten Kreis, wo die Buchstaben GS standen.

»Graf Surow, Ippolit Alexandrowitsch. Anscheinend ein Geliebter der Beshezkaja. Ein Mann ohne alle moralischen Grundsätze, ein Spieler, Renommist, Possenreißer. Es gibt indirekte Indizien. Er hat das Haus nach dem Streit mit dem später Ermordeten in starker Erregung verlassen - Punkt eins. Er hatte so die Möglichkeit, dem Opfer aufzulauern, zu folgen, den Mörder zu schicken - Punkt zwei. Der Hausknecht hat ausgesagt, Surow sei erst gegen Morgen nach Hause gekommen - Punkt drei. Ein Motiv, wenn auch ein wackliges, wäre ebenso vorhanden: Eifersucht oder krankhafte Rachsucht. Vielleicht kommt noch irgend etwas hinzu. Was hauptsächlich dagegen spricht: Surow ist nicht der

Mann, der für sich morden läßt. Übrigens halten sich laut übereinstimmender Aussagen diverser Detektive immer irgendwelche obskuren Personen in seiner Nähe auf, was die Stichhaltigkeit der Version erhöht. Sie, Fandorin, werden sich also in erster Linie um ihn kümmern. Es gibt eine ganze Gruppe von Agenten, die gegen ihn ermitteln, aber Sie sollen getrost alleine vorgehen, das können Sie gut. Die Einzelheiten Ihrer Mission besprechen wir später, kommen wir erst einmal zum letzten Kreis. Den nehme ich mir persönlich vor.«

Fandorin runzelte die Stirn - er kam nicht darauf, was die Buchstaben NO bedeuten konnten.

»Nihilistische Organisation«, löste der Chef das Rätsel. »Es gibt in dieser Sache einige Anzeichen für eine Verschwörung, nur keine jüdische, sondern etwas viel Handfesteres. Deswegen bin ich im Grunde hierher abkommandiert worden. Wobei freilich auch Fürst Korschakow darum gebeten hat - wie Sie wissen, war Nikolai Achtyrzew der Sohn seiner verstorbenen Tochter. Aber es kann sein, daß die Sache viel komplizierter ist als angenommen. Unsere russischen Revolutionäre stehen vor der Spaltung. Der entschlossenste und ungeduldigste Teil dieser Robespierres ist es leid, den Mitbürger ewig nur aufzuklären - eine mühselige Angelegenheit, und langwierig, ein Leben reicht nicht aus dafür. Bomben, Stiletts und Revolver sind da doch viel spannender. Ich rechne in absehbarer Zeit mit einem Blutvergießen größeren Ausmaßes. Dagegen ist alles Bisherige nur ein Kinderspiel. Der Terror gegen die herrschende Klasse könnte die Massen ergreifen. Seit längerem bin ich in der Dritten Abteilung mit der Aufklärung besonders radikal und konspirativ vorgehender terroristischer Gruppen befaßt. Von meinem Patron, Lawrenti Arkadjewitsch Misinow, der der Dritten Abteilung wie auch der Gendarmerie vorsteht, bekam ich darum den Auftrag zu erkunden, was es mit dem in Moskau aufgetauchten Asasel auf sich hat. Denn der Dämon ist ein äußerst revolutionäres Symbol. Hier steht Rußlands Schicksal auf dem Spiel, mein lieber Fandorin!« Von Brillings bisheriger Spottlust war nichts mehr übrig, Erbitterung schwang in seiner Stimme. »Wenn man das Geschwür nicht schon im Keim extrahiert, zetteln uns diese Romantiker in dreißig Jahren oder früher eine revolution an, gegen die die französische Guillotine ein harmloses Späßchen ist. Die lassen Sie und mich gewiß nicht in Ruhe alt werden, denken Sie an meine Prophezeiung. Haben Sie die >Dämonen< des Herrn Dostojewski gelesen? Das sollten Sie aber. Eine anschauliche Prognose.«