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»Vier Versionen also?« fragte Erast Fandorin unschlüssig.

»Zu wenig? Haben wir etwas nicht bedacht? Reden Sie, reden Sie, bei der Arbeit gibt es für mich keine Rangordnungen«, ermunterte ihn der Chef. »Und haben Sie bloß keine Angst, sich lächerlich zu machen - das kommt Ihnen nur aufgrund Ihres Alters so vor. Besser, eine Dummheit zu sagen, als etwas Entscheidendes zu übersehen.«

Fandorin begann verlegen, legte jedoch bald an Inbrunst zu: »Mir scheint, Euer Hoch-. Chef, daß Sie Lady Aster zu früh ausgeklammert haben. Sie ist zwar eine äußerst ehrenwerte und angesehene Person, nur - es geht doch um ein Millionenerbe! Die Beshezkaja hat davon nichts, Graf Surow auch nicht und der Nihilistenklüngel höchstens insofern, daß es dem Gemeinwohl zugute kommt. Ich weiß nicht, was Lady Aster für eine Rolle spielt, vielleicht gar keine, aber der Ordnung halber müßte man . Es gibt doch dieses kriminalistische Grundprinzip: Is fecit, cui prodest - getan hat es der, dem es nützt.«

»Besten Dank für die Übersetzung«, sagte Brilling mit einer Verbeugung, was Fandorin erneut verlegen machte. »Die Anmerkung ist vollkommen korrekt, jedoch hat Ach- tyrzews Darstellung, wie Ihr Bericht sie wiedergibt, alle diesbezüglichen Unklarheiten beseitigt. Der Name der Baronesse Aster ist zufällig ins Spiel gekommen. Ich habe sie in die Liste der Verdächtigen nicht aufgenommen, um erstens kostbare Zeit zu sparen und weil ich zweitens das Glück hatte, dieser Dame hin und wieder zu begegnen, sie also ein wenig kenne.« Brilling zeigte ein freundliches Lächeln. »Aber im Grunde haben Sie recht, Fandorin. Ich will Ihnen meine Schlüsse keinesfalls aufzwingen. Sie haben selbst einen Kopf zum Denken und müssen niemandem unbesehen glauben. Statten Sie der Baronesse einen Besuch ab, fragen Sie sie, was immer Sie für nötig erachten. Ich bin sicher, daß die Bekanntschaft Ihnen zu alledem auch einiges Vergnügen bereiten wird. Im Munizipal-Amt erfahren Sie Lady Asters Moskauer Adresse. Noch etwas: Lassen Sie sich, bevor Sie nach Hause gehen, in der Kleiderkammer Maß nehmen. Ich möchte, daß Sie nicht länger in Uniform zum Dienst erscheinen. Der Baronesse meine Empfehlung. Und wenn Sie dann um einiges klüger zurückkommen, machen wir uns an die Arbeit. Graf Surow wartet auf Sie.«

SIEBTES KAPITEL,

in welchem die Pädagogik zur wichtigsten aller Wissenschaften erklärt wird

Die Adresse, die Fandorin auf dem Amt erfahren hatte, führte ihn zu einem massiven dreistöckigen Gebäude, das auf den ersten Blick an eine Kaserne erinnerte - allerdings war es von einem Garten umgeben, und die Türen standen einladend offen. Dies war das neueröffnete sogenannte Asternat der englischen Baronesse. Ein Bediensteter im feschen blauen Rock mit silbernen Schnüren, der in einem gestreiften Büdchen saß, beeilte sich Auskunft zu geben, daß Mylady nicht hier, sondern im Seitenflügel residierten, Eingang um die Ecke rechts.

Fandorin sah eine Horde Knirpse in niedlichen blauen Uniformen aus den Türen springen, mit wildem Geschrei fegten sie über den Rasen und spielten Fangen. Der Bedienstete dachte nicht daran, die Rangen zur Ordnung zu rufen. Fandorins erstaunten Blick bemerkend, erklärte er: »Das ist nicht verboten. In der Pause dürfen sie Purzelbaum schlagen, soviel sie wollen, wenn nur das Inventar heil bleibt. So ist die Hausordnung.«

Anscheinend hatten die Waisenkinder hier ihre Freiheiten - anders als die Schüler der städtischen Gymnasien, zu denen sich unser Kollegienregistrator noch vor gar nicht langer Zeit zu zählen hatte. Fandorin freute sich für die armen Kinder und lief am Zaun entlang in die angegebene Richtung.

Um die Ecke lag ein schattiges Sträßchen, wie es hier im Viertel Chamowniki unzählige gab: mit staubigem Pflaster,

Palisadenzäunen vor den verträumten kleinen Villen und ausladenden Pappeln, von denen schon bald der weiße Flaum fliegen würde. Der zweistöckige Seitenflügel, in dem Lady Aster ihr Domizil hatte, war mit dem Hauptgebäude über eine lange Galerie verbunden. Vor der Marmortafel mit der Aufschrift Erstes Moskauer Asternat. Direktion sonnte sich ein beeindruckender Türhüter mit geöltem und gestriegeltem Backenbart. So ein vornehmes Exemplar - weiß be- strumpft, mit Dreispitz und goldener Kokarde - hatte Fan- dorin noch nie zu Gesicht bekommen, nicht einmal vor der Residenz des Generalgouverneurs.

»Heute keine Sprechstunde!« Der Recke senkte den Arm wie einen Schlagbaum. »Bemühen Sie sich morgen wieder. In öffentlichen Angelegenheiten von zehn bis zwölf, in privaten von zwei bis vier.«

Nein, mit dem Stamm der Türhüter wollte sich für Erast Fandorin entschieden kein Einvernehmen herstellen. Entweder war sein Aufzug nicht solide genug, oder etwas stimmte an seiner Nase nicht.

»Kriminalpolizei. Zu Lady Aster, dringend!« Fandorin genoß bereits die Vorstellung, wie der goldbetreßte Zerberus im nächsten Moment in eine Verbeugung abknicken würde.

Aber der Zerberus dachte nicht daran.

»Zu Ihrer Erlaucht? Das weiß ich zu verhindern. Wenn es Ihnen beliebt, kann ich Sie bei Mr. Cunningham anmelden.«

»Ich brauche keinen Cunningham!« versetzte Fandorin gereizt. »Geh jetzt und melde mich bei der Baronesse, du Knallkopf, sonst übernachtest du heute bei mir auf dem Revier! Und sag ihr, die Kriminalpolizei steht vor der Tür, in einer dringenden Staatsangelegenheit!«

Der Türhüter maß den wütenden kleinen Beamten mit einem zutiefst skeptischen Blick, verschwand aber immerhin hinter der Tür. Den Gast ließ der dreiste Kerl draußen stehen.

Es verging geraume Zeit, Fandorin war nahe daran, ohne Aufforderung einzutreten, da erschien das martialische Bartgesicht wieder im Türspalt.

»Ihre Erlaucht empfangen, aber Russisch können Sie vergessen, Mr. Cunningham hat keine Muße zum Übersetzen, er hat Wichtigeres zu tun. Höchstens, Sie könnten sich französisch ausdrücken .«

Man hörte heraus, wie wenig der Türhüter an eine solche Möglichkeit glaubte.

»Genausogut englisch«, beschied Fandorin in kühlem Ton. »Wohin muß ich?«

»Ich gehe vor. Bitte zu folgen.«

Durch ein blitzsauberes, mit Möbelleinen tapeziertes Vestibül und einen sonnenüberfluteten Korridor mit einer Reihe hoher holländischer Fenster folgte Fandorin dem Recken zu einer goldverzierten weißen Tür.

Daß das Gespräch in Englisch geführt werden würde, brachte Fandorin nicht in Verlegenheit. Er war in der Obhut von Nanny Lizbeth (in strengen Augenblicken zuweilen: Mrs. Jason) aufgewachsen, einer waschechten englischen Amme. Sie war eine herzensgute, fürsorgliche, dabei streng auf Etikette bedachte alte Jungfer, die man - der Berufsehre wegen - keinesfalls mit »Miss«, nur mit »Mistress« ansprechen durfte. Lizbeth hatte ihren Schützling gelehrt, pünktlich aufzustehen - sommers um halb sieben und winters um halb acht -, beim Zähneputzen bis zweihundert zu zählen, sich nie ganz satt zu essen, und was es sonst noch an Qualitäten gibt, die einen echten Gentleman ausmachen.

Eine sanfte Frauenstimme antwortete auf sein Klopfen:

»Come in! Entrez!«

Fandorin reichte dem Türhüter seine Mütze und trat ein.

Er kam in ein großes, üppig möbliertes Kabinett, dessen Mittelpunkt ein riesiger Mahagonischreibtisch war. Dahinter saß eine grauhaarige Dame, die einen angenehmen, ja, ausgesprochen gemütlichen Eindruck machte. Die blauen Augen hinter dem goldenen Kneifer sprühten geradezu vor Freundlichkeit und Lebendigkeit. Das nicht sehr anmutige Gesicht mit der entenschnäbligen Nase und dem großen, lächelnden Mund gefiel Fandorin auf Anhieb.