Er stellte sich auf englisch vor, wobei er mit seinem Anliegen noch hinter dem Berg hielt.
»Sie haben eine exzellente Aussprache, Sir«, lobte ihn Lady Aster in selbiger Sprache, wobei sie jede Silbe sorgfältig ausformte. »Ich hoffe, unser grimmiger Timothy . ich meine, Timofej hat Sie nicht allzusehr erschreckt? Ehrlich gesagt, habe sogar ich zuweilen Angst vor ihm, doch hier in der Direktion tauchen des öfteren irgendwelche Amtspersonen auf, und dann ist Timothy unersetzlich, besser als jeder englische Butler. Nehmen Sie doch Platz, junger Mann. Am besten dort, in dem Sessel, da haben Sie es am bequemsten. Sie arbeiten also bei der Kriminalpolizei? Das muß ja ein sehr interessanter Beruf sein. Und was tut Ihr Vater, wenn ich fragen darf?«
»Er ist tot.«
»Oh, das tut mir leid, Sir. Und die Frau Mutter?«
»Die auch«, brummte Fandorin, dem dieser Einstieg ins Gespräch nicht behagte.
»Ach. Sie armer Junge. Ich weiß, wie einsam Sie sind. Seit nunmehr vierzig Jahren helfe ich solch armen Jungen, die Einsamkeit hinter sich zu lassen und ihren Weg zu finden.«
»Ihren Weg, Mylady?« Fandorin verstand nicht recht, was gemeint war.
»Aber ja!« ereiferte sich Lady Aster, sie schien gerade ihr Steckenpferd zu reiten. »Seinen Weg zu finden ist das Wichtigste im Leben eines jeden Menschen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß jeder Mensch seine einzigartigen Talente hat, in jedem steckt eine göttliche Gabe. Die Tragödie der Menschheit besteht darin, daß wir nicht imstande und wohl nicht einmal sonderlich interessiert daran sind, diese Gabe im Kinde aufzuspüren und zu hegen. Das Genie gilt uns als die Ausnahme und als Wunder, dabei ist das Genie nichts anderes als ein Mensch, der Glück gehabt hat: Das Schicksal wollte es, daß die Lebensumstände diesen Menschen zur richtigen Wahl seines Weges angehalten haben. Mozart ist das klassische Beispiel dafür. Er ist in der Familie eines Musikers geboren, also in einer Atmosphäre aufgewachsen, die die ihm in die Wiege gelegten Talente auf ideale Weise genährt hat. Nun stellen Sie sich einmal vor, Sir, Wolfgang Amadeus wäre in einer Bauernfamilie aufgewachsen. Bestimmt wäre ein garstiger Kuhhirt aus ihm geworden, bestenfalls einer, der seine Kühe mit zauberhaften Schalmeientönen beglückt. In der Familie eines tumben Offiziers hätte er es wiederum am ehesten zum linkischen Feldwebel gebracht, mit einer Vorliebe für Militärmärsche. Oh, glauben Sie mir, junger Mann: Jedes, wirklich ausnahmslos jedes Kind birgt in sich einen Schatz - aber der will erst einmal gehoben sein! Es gibt einen sehr netten nordamerikanischen Schriftsteller mit Namen Mark Twain. Ich habe ihm einmal die Idee zu einer Erzählung geliefert, in der die Menschen nicht nach ihren tatsächlichen Leistungen angesehen werden, sondern nach ebenjenem Potential, jener Begabung, die die Natur in ihnen angelegt hat. Und es zeigt sich, der größte Heerführer aller Zeiten ist irgendein namenloser Schneider, der niemals bei der Armee war, und der größte Maler hatte nie einen Pinsel in der Hand, weil er nämlich sein Lebtag als Schuster gearbeitet hat. Mein Erziehungssystem zielt darauf ab, daß jeder große Heerführer unbedingt eine Militärkarriere ansteuern und jeder große Maler beizeiten Zugang zu den Farben erhalten muß. Meine Pädagogen erforschen behutsam und geduldig jede seelische Regung ihrer Zöglinge, suchen darin nach dem göttlichen Funken, und in neun von zehn Fällen entdecken sie ihn!«
»Aha, das heißt, er steckt doch nicht in jedem!« sagte Fan- dorin und hob triumphierend den Zeigefinger.
»Doch, mein Junge, absolut in jedem, nur leider sind wir Pädagogen noch nicht geschickt genug. Oder aber in dem Kind schlummert ein Talent, für das die Welt von heute leider keine Verwendung hat. Vielleicht wäre dieser Mensch wie geschaffen für die Urgesellschaft, oder sein Genie wird erst in der fernen Zukunft gebraucht - auf einem Gebiet, von dem wir einstweilen noch keine Vorstellung haben.«
»Gut, was die Zukunft angeht, kann es sein, das wage ich nicht zu beurteilen«, erwiderte Fandorin, den das Thema wider Willen gepackt hatte. »Aber was Sie über die Urgesellschaft sagen, verstehe ich nicht ganz. An was für Talente denken Sie dabei?«
»Das weiß ich doch nicht, mein Junge!« antwortete Lady Aster mit entwaffnendem Lächeln. »Meinetwegen die Gabe, mit Bestimmtheit zu erkennen, wo unter der Erde sich Wasser befindet. Oder die, ein wildes Tier im Wald zu wittern. Vielleicht auch die Fähigkeit, genießbare von ungenießbaren Wurzeln zu unterscheiden. Ich weiß nur eins: In damaligen Zeiten galten solche Menschen als die großen Genies, während Mr. Darwin oder Herr Schopenhauer, hätten sie damals gelebt, von ihren Stämmen für die letzten Tölpel gehalten worden wären. Nebenbei bemerkt, verfügen auch diejenigen Kinder, die heute als geistig minderbemittelt angesehen werden, über Begabungen. Freilich keine von rationaler Art, darum aber nicht minder kostbare. Zu Hause in Sheffield habe ich ein spezielles Asternat für solche Kinder, mit denen die herkömmliche Pädagogik nichts zu tun haben will. Jesus! Welche Wunder an Genialität bei diesen Jungen zutage treten! Es gibt da ein Kind, das mit dreizehn noch kaum richtig sprechen kann, aber durch Handauflegen jede Migräne zu heilen versteht. Ein anderes, vollkommen stumm, kann über viereinhalb Minuten den Atem anhalten. Ein drittes heizt allein mit seinem Blick ein Glas Wasser auf, können Sie sich das vorstellen?«
»Unglaublich! Aber wieso eigentlich immer nur Jungen? Was ist mit den Mädchen?«
Lady Aster seufzte und hob die Hände.
»Sie haben recht, mein Freund. Man müßte natürlich auch mit Mädchen arbeiten. Leider hat mir die Erfahrung gezeigt, daß die heutige Gesellschaft moralisch nicht bereit ist, die der weiblichen Natur innewohnenden Talente in ihrer oftmals sehr besonderen Beschaffenheit auf gebührende Weise anzunehmen. Wir leben in einer Epoche der Männer, das muß man berücksichtigen. In einer Gesellschaft, in der die Männer das Sagen haben, stößt die begabte, außergewöhnliche Frau auf Mißtrauen und Feindseligkeit. Und ich möchte nicht, daß meine Schützlinge in ihr Unglück laufen.«
»Aber wie ist Ihr System denn aufgebaut? Wie zum Beispiel werden die Kinder, na, sagen wir, sortiert?« fragte Fan- dorin mit lebhafter Neugier.
»Ach, interessiert Sie das?« freute sich die Baronesse. »Dann gehen wir am besten ins Schulhaus hinüber, da sehen Sie es mit eigenen Augen.«
Mit einer für ihr Alter erstaunlichen Behendigkeit war sie aufgesprungen - bereit zu einer Führung durch das Haus, wie es schien.
Fandorin verbeugte sich, und Mylady geleitete ihren jungen Gast zunächst wieder den Korridor entlang und durch die lange Galerie zum Haupthaus.
Unterwegs erzählte sie: »Das hiesige Institut ist ganz neu, erst vor drei Monaten eröffnet, und wir stehen mit unserer Arbeit noch am Anfang. Meine Leute haben die Jungen aus den Waisenhäusern und manchmal direkt von der Straße geholt, einhundertzwanzig insgesamt, zwischen vier und zwölf Jahren. Bei noch älteren Kindern läßt sich kaum mehr etwas ausrichten, die Persönlichkeit ist schon fertig geformt. Zunächst hat man die Jungen in Altersklassen aufgeteilt, jede hat ihren eigenen Lehrer, der sich mit dem jeweiligen Alter besonders gut auskennt. Ihm obliegt es, sich die Kinder genau anzuschauen und ihnen nach und nach bestimmte einfache Aufgaben zu stellen. Diese Aufgaben sind spielerischer Art, doch läßt sich mit ihrer Hilfe gut erkennen, welche grundsätzlichen Anlagen vorhanden sind. In der Anfangsphase ist erst einmal herauszufinden, wo sich bei jedem Kind die Begabungen konzentrieren - im Körper, im Kopf oder in der Intuition. Anschließend werden die Kinder schon nicht mehr nach dem Alter, sondern nach Profilen sortiert: Rationalisten, Künstler, Handwerker, Führer, Sportler und so weiter. Allmählich engt sich das Profil immer weiter ein, so daß die älteren Jungen nicht selten individuell ausgebildet werden. Ich arbeite seit vierzig Jahren mit Kindern, und Sie können sich nicht vorstellen, was meine Schützlinge schon alles geleistet haben - auf den allerverschiedensten Gebieten.«