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»Das ist grandios, Mylady!« Fandorin ließ seiner Begeisterung freien Lauf. »Aber wo nehmen Sie die vielen geschickten Pädagogen her?«

»Ich bezahle meine Lehrer sehr gut, denn die Pädagogik ist nun einmal die wichtigste aller Wissenschaften«, sagte die Baronesse aus tiefster Überzeugung. »Außerdem äußern viele meiner ehemaligen Schüler den Wunsch, als Erzieher am Asternat zu bleiben. Was nur natürlich ist, denn das Asternat ist wie eine große Familie, die einzige, die sie je hatten.«

Sie betraten einen großen Pausenraum, von dem aus die Türen zu den Klassenzimmern abgingen.

»In welches soll ich Sie führen?« überlegte Lady Aster. »Vielleicht ins Physikzimmer. Da gibt gerade mein verehrter Doktor Blank eine Demonstrationsstunde. Er ist Absolvent des Zürcher Asternats und ein genialer Physiker. Ich konnte ihn nach Moskau locken, indem ich ihm ein Labor für Versuche an der Elektrizität eingerichtet habe. Dafür muß er den Kindern allerlei physikalische Kunststückchen vorführen, um das Interesse an dieser Wissenschaft zu wecken.«

Die Baronesse klopfte an eine der Türen, und sie warfen einen Blick in die Klasse. An die fünfzehn Jungen saßen in den Bänken, Elf- oder Zwölfjährige, in blauen Uniformen mit einem goldenen »A« auf den Kragen. Alle schauten sie mit angehaltenem Atem zu, wie ein mürrisch dreinblickender junger Mann mit wucherndem Bart, speckigem Jackett und nicht ganz frischem Hemd eine Art gläsernes Rad drehte, welches fauchte und blaue Funken sprühte.

»Ich bin stark beschäftigt, Mylady! Später, später!« rief Doktor Blank auf deutsch und in unwirschem Ton, dann wandte er sich sofort wieder den Kindern zu, denen er in gebrochenem Russisch seine Erklärungen gab: »Gleich, meine Herren, ihr sehen echten kleinen Regenbogen! Name: Blankscher Regenbogen, Raduga Blanka. Meine Ausden- kung, als ich klein war wie ihr.«

Zwischen diesem seltsamen Rad und dem mit allerlei physikalischem Gerät vollgestellten Tisch spannte sich urplötzlich ein kleiner, erstaunlich heller Regenbogen, und die Jungen riefen begeistert oh und ah.

»Ein bißchen verrückt ist er, aber ein echtes Genie!« raunte Lady Aster Fandorin zu.

Im selben Moment erscholl von nebenan ein lauter, kindlicher Schrei.

»Mein Gott!« Mylady griff sich ans Herz. »Das kam aus dem Turnsaal. Schnell!«

Sie stürzte auf den Korridor, Fandorin ihr nach. Sie liefen in den Nachbarraum, einen lichten, leer wirkenden Saal, dessen Fußboden fast vollständig mit Ledermatten ausgelegt war und an dessen Wänden sich diverse Gerätschaften zur Körperertüchtigung reihten: Sprossenwände, Ringe, dicke Seile und Trampolins; Rapiere und Fechtmasken lagerten neben Boxhandschuhen und Gewichten. Ein Schwarm Siebenoder Achtjähriger drängte sich um eine der Matten. Fando- rin schob ein paar Kinder beiseite und sah einen Knaben dort liegen, schmerzverkrümmt; ein Mann im Turntrikot, um die Dreißig, mit feuerrotem, lockigem Haar, grünen Augen und einem energischen, mit Sommersprossen übersäten Gesicht, beugte sich über ihn.

»Na, komm, mein Lieber«, sprach er auf Russisch, mit nur leichtem Akzent. »Zeig her das Beinchen, hab keine Angst. Ich tu dir nicht weh. Sei mal tapfer, bist doch ein Mann ... Fell from the rings, Mylady«, erklärte er der Baronesse. »Weak hands. I am afraid, the ankle is broken. Would you please tell Mr. Izyumoff?«

Die Lady nickte wortlos und verließ, Fandorin mit sich ziehend, schnell den Saal.

»Ich hole den Doktor«, sagte sie hastig. »Solche Geschichten kommen vor - es sind eben Jungen. Das war übrigens Gerald Cunningham, meine rechte Hand. Absolvent des Londoner Asternats. Ein glänzender Pädagoge. Er leitet die gesamte russische Niederlassung. In sechs Monaten hat er Ihre schwere Sprache gelernt, was mir überhaupt nicht gelingen will. Erst vorigen Herbst hat Gerald das Asternat in Petersburg aufgemacht, und nun ist er für ein Weilchen hier und hilft, die Sache in Gang zu bringen. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen.«

Vor der Tür mit der Aufschrift »Arzt« blieb sie stehen.

»Verzeihen Sie, Sir, wir müssen unser Gespräch erst einmal unterbrechen. Alles übrige ein andermal, ja? Kommen Sie morgen wieder, dann reden wir weiter. Sie hatten doch ein Anliegen, nicht wahr?«

»Nichts Wichtiges, Mylady« sagte Fandorin und wurde schon wieder rot. »Ich denke, das können wir wirklich ... ein andermal. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem edlen Unterfangen.«

Er verbeugte sich ungeschickt und schritt eilig von dannen. Erast Fandorin schämte sich sehr.

»Na, was ist, haben wir die Übeltäterin auf frischer Tat ertappt?« wurde der zerknirschte Fandorin von seinem Vorgesetzten fröhlich empfangen, der über irgendwelchen schwierigen Diagrammen saß. Die Vorhänge im Kabinett waren zugezogen, die Schreibtischlampe brannte, draußen dunkelte es schon. »Lassen Sie mich raten. Von einem Mr. Ko- korin haben Mylady noch nie etwas gehört, von Miss Beshezkaja gleich gar nicht, und die Nachricht von dem Selbstmord hat sie außerordentlich betroffen gemacht. Hab ich recht?«

Fandorin seufzte nur.

»Ich kenne die Dame von Petersburg her. Ihren Antrag auf pädagogische Betätigung in Rußland hatten wir in der Dritten Abteilung auf dem Tisch. Hat Sie Ihnen von den genialen Schwachköpfen vorgeschwärmt? Egal. Zur Sache. Setzen Sie sich!« Der Chef winkte ihn an den Tisch. »Sie haben eine spannende Nacht vor sich!«

Fandorin spürte ein angenehmes Kribbeln in der Brust - wie jedesmal, wenn er mit dem Herrn Staatsrat zu tun hatte.

»Sie nehmen Surow ins Visier. Gesehen haben Sie ihn ja schon, können sich also ein ungefähres Bild von ihm machen. Sich dem Grafen zu nähern ist einfach, man braucht keine Empfehlungen. Er betreibt in seinem Haus eine Art Spielhölle, um Konspiration schert er sich wenig. Es herrscht so ein Husarengardeton, aber natürlich lungert da alles mögliche Gesindel herum. Ein gleiches Haus unterhielt Surow in Petersburg. Nachdem die Polizei ihm dort ihre Aufwartung machte, hat er sich nach Moskau verzogen. Er tut und läßt, was er will, beim Regiment gilt er als beurlaubt, schon das dritte Jahr. Ihre Aufgabe ist folgende: Versuchen Sie in seine Nähe zu kommen, erforschen Sie seine Umgebung. Womöglich taucht plötzlich Ihr weißäugiger Bekannter dort auf? Aber bitte keine Eigenmächtigkeiten, gegen so einen hätte man als einzelner keine Chance. Im übrigen ist es unwahrscheinlich, daß Sie ihn dort treffen. Möglicherweise interessiert sich der Graf für Sie, er ist Ihnen ja bei der Beshezkaja begegnet, und die läßt ihn augenscheinlich nicht kalt. Handeln Sie je nach Situation. Aber lassen Sie sich zu nichts hinreißen! Mit diesem Herrn ist nicht zu spaßen. Er betrügt beim Spiel, >mauschelt<, wie man in diesen Kreisen zu sagen pflegt, und wenn ihn einer dabei erwischt, sucht er sein Heil im Skandal. Ein gutes Dutzend Duelle hat er schon auf dem Kerbholz - und das sind nur die, von denen man weiß. Jemandem ohne Duell den Schädel einzuschlagen, bringt er genauso fertig. Zur Messe in Nishni Nowgorod 1872 zum Beispiel hat er sich mit dem Kaufmann Swistschow beim Kartenspiel in die Wolle gekriegt und den Rauschebart kurzerhand aus dem Fenster geschmissen. Erster Stock. Der Kaufmann hat sich alle Knochen gebrochen, einen Monat gelegen und nur gewinselt. Und der Graf ist ungeschoren davongekommen. Er hat einflußreiche Verwandte an den nötigen Stellen sitzen. Was ist das?« fragte Brilling auf seine überrumpelnde Art und legte einen Satz Spielkarten auf den Tisch.

»Spielkarten«, sagte Fandorin und wunderte sich.

»Spielen Sie?«

»Überhaupt nicht. Papa war dagegen, daß ich Karten auch nur in die Hand nehme. Er habe genug gespielt - für sich, mich und drei Fandorinsche Generationen im voraus, meinte er immer.«