Und ob! dachte Erast Petrowitsch Fandorin. Der trifft aus zwanzig Schritt einen Fünfer, hat Achtyrzew erzählt. Meine Stirn ist größer als ein Fünfer. Und erst mein Bauch. In Fandorin krampfte sich etwas zusammen. Noch nie hatte er eine Duellpistole in der Hand gehabt. Ein einziges Mal hatte ihn Xaveri Gruschin auf den polizeilichen Schießstand mitgenommen und einen Colt ausprobieren lassen. Das war etwas ganz anderes. Der hier erschoß ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Und er kam gleich zur Sache, da war kein Durchmogeln. Zeugen gab es jede Menge. Streit beim Kartenspiel, das kam alle Tage vor. Der Graf würde einen Monat auf der Hauptwache sitzen und dann wie immer, dank der einflußreichen Verwandtschaft, freikommen. Fandorin hatte niemanden. Man würde den Kollegienregistrator in einen Brettersarg legen und verscharren, keiner würde zur Beerdigung kommen, mit Ausnahme von Gruschin und Agrafena Kondratjewna. Und Lisanka würde in der Zeitung davon lesen und denken: Schade, das war ein netter Polizist, und so jung noch. Aber wahrscheinlich würde sie es gar nicht lesen, von Emma Pfuhl bekam sie gewiß keine Zeitungen in die Hand. Und der Chef würde vermutlich sagen: Ich hab an diesen Idioten geglaubt, und er tappt in die Falle wie ein blindes Huhn. Läßt sich auf ein Duell ein, diesen adligen Firlefanz. Und würde womöglich ausspucken.
»Jetzt sagen Sie wohl nichts mehr?« fragte Surow mit grausamem Grinsen. »Ist Ihnen die Lust am Schießen vergangen?«
Aber Fandorin war eben die rettende Idee gekommen. Man mußte zu dem Duell ja nicht sofort antreten, es reichte morgen früh. Zum Chef zu rennen und zu petzen wäre natürlich schäbig und unwürdig. Aber hatte Brilling nicht erwähnt, noch andere Detektive auf Surow angesetzt zu haben? Dann war es sehr gut möglich, daß einer von Brillings Leuten im Raum war. Er durfte die Herausforderung annehmen, seine Ehre wahren, und wenn anderntags im Morgengrauen die Polizei hier auftauchen und den Grafen Surow wegen Betreibens einer Lasterhöhle in Arrest nehmen würde, traf Fando- rin keine Schuld. Er durfte ahnungslos sein - Brilling wußte auch ohne ihn, was zu tun war.
Die Rettung lag sozusagen auf der Hand. Doch plötzlich gewann Fandorins Stimme ein Eigenleben, sie entzog sich der Kontrolle ihres Besitzers, verkündete etwas Ungeheuerliches, und - o Wunder! - sie zitterte nicht einmal dabei: »Nein, durchaus nicht. Aber warum die Entscheidung auf morgen verschieben? Besser, sie fällt hier und gleich. Ich habe gehört, Sie tun den ganzen Tag nichts anderes, als auf Fünfer zu schießen, exakt auf zwanzig Schritt?«
Surow errötete heftig.
»Dann sollten wir beide uns auf etwas anderes verlegen - sofern Sie den Mut dazu haben.«
Schön, wie ihm Achtyrzews Geschichte jetzt zupaß kam! Er mußte sich überhaupt nichts aus den Fingern saugen. Alles war schon fix und fertig ausgedacht.
»Wir lassen die Karten entscheiden. Wen es trifft, der geht auf den Hof und erschießt sich. Ohne alle Barrieren. So gibt es hinterher nur ein Minimum an Scherereien. Jemand hat verspielt und sich eine Kugel in den Kopf geschossen - völlig normal. Und die anwesenden Herrschaften geloben ihr Schweigen. Das tun Sie doch, meine Herren?«
Eine Diskussion entstand, die Meinungen waren geteilt: Die einen zeigten sich sofort bereit, das verlangte Ehrenwort zu geben, andere schlugen vor, den Streit zu vergessen und friedlich miteinander anzustoßen. »Der ist doch noch ein halbes Kind!« kam der Einwand eines Majors mit üppigem Schnauzbart, was Fandorin nur noch trotziger werden ließ.
»Was ist, Graf?« rief er mit verzweifeltem Aplomb und riß endgültig alle Brücken hinter sich ein. »Einen Fünfer zu treffen ist doch nicht leichter als in die eigene Stirn? Fürchten Sie, daneben zu schießen?«
Surow schwieg, gespannt blickte er den dreisten Herausforderer an, er schien im Geiste etwas abzuwägen.
»Gut«, sprach er schließlich mit überraschender Kaltblütigkeit, »von mir aus. Die Bedingungen sind akzeptiert. Jean!«
Ein eifriger Lakai kam auf den Grafen zugeeilt.
»Einen Revolver, ein frisches Blatt und eine Flasche Champagner«, wies er ihn an, dann raunte er ihm noch etwas ins Ohr.
Nach zwei Minuten kehrte Jean mit einem Tablett zurück. Er mußte sich zum Tisch durchdrängen, um den nun ausnahmslos alle Besucher des Salons versammelt waren.
Mit einer routinierten, blitzschnellen Handbewegung kippte Surow den Lauf des Lefaucheux-Revolvers nach vorn, und man sah, daß alle zwölf Patronen im Magazin steckten.
»Hier ist das Blatt.« Seine Finger rissen die unversehrte Verpackung auf. »Diesmal bin ich in der Vorhand.« Er lachte, schien bei bester Laune zu sein. »Die Regeln sind einfach: Wer als erster eine schwarze Karte zieht, gibt sich die Kugel. Einverstanden?«
Fandorin nickte. Ihm schwante bereits, daß man ihn betrog, gehörig hinters Licht führte, er war ein toter Mann - noch sicherer als auf zwanzig Schritt Entfernung. Der schlaue Surow hatte ihn glatt ausgespielt. Wie sollte so ein Fuchs nicht die nötige Karte ziehen, noch dazu aus einem eigenen Blatt! Der besaß doch wohl ein ganzes Depot gezinkter Spielkarten!
Unterdessen hatte Surow, nach theatralischer Bekreuzi- gung, die oberste Karte aufgedeckt. Es war die Karo Dame.
»Die liebe Venus!« Der Graf lächelte überlegen. »Die rettet mich immer wieder. Sie sind dran, Fandorin!«
Zu protestieren oder zu feilschen ging gegen Fandorins Stolz. Ein anderes Blatt zu fordern, war es zu spät. Und die Sache hinauszuzögern war nur peinlich.
Fandorin streckte die Hand aus und deckte einen Pique Buben auf.
NEUNTES KAPITEL,
in welchem sich für Fandorin gute Karriereaussichten auftun
»... und Freund Momos. Der Kasper!« kommentierte Surow und sog genüßlich an seiner Pfeife. »Aber der kann Ihnen auch nicht mehr helfen. Noch ein Schlückchen Champagner für den guten Mut - oder gleich auf den Hof?«
Mit hochrotem Gesicht saß Fandorin da. Groll schnürte ihm die Kehle zu - nicht auf den Grafen, sondern auf sich selbst, den vollkommenen Idioten, der er war. Der nicht zu leben verdiente.
»Ich mach’s gleich hier«, stieß er grimmig hervor, wenigstens wollte er den Hausherrn zuletzt noch etwas piesacken. »Ihr flinker Johann kann ja anschließend aufwischen. Und verschonen Sie mich mit dem Champagner - mir brummt der Schädel davon.«
In solcher Wut, jeden Gedanken vermeidend, packte Fan- dorin den schweren Revolver, spannte den Hahn, zögerte einen Moment, wohin er schießen sollte - ach, egal! -, schob sich den Lauf in den Mund, zählte stilclass="underline" drei, zwei, eins - und betätigte den Abzug so heftig, daß er sich die Zunge schmerzhaft einklemmte. Ein Schuß war übrigens nicht losgegangen - es gab nur ein trockenes Klicken. Irritiert drückte Fandorin noch einmal ab - es klickte wieder, nur daß das Metall diesmal unangenehm gegen den Zahn schrammte.
»Nicht schlecht für den Anfang!« ließ Surow sich hören, nahm ihm die Waffe aus der Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Tapferes Bürschchen! Macht Anstalten, sich ohne
Brimborium und Hysterie übern Haufen zu schießen. Da wächst eine feine Generation heran, was, meine Herren? Jean, gieß Champagner ein, ich möchte mit Herrn Fandorin Brüderschaft trinken.«
Erast Fandorin, von einer seltsamen Willenlosigkeit ergriffen, tat, was ihm geheißen. Matt schlürfte er die perlende Flüssigkeit in sich hinein, matt tauschte er den Bruderkuß mit dem Grafen, den er von nun an Ippolit nennen sollte. Alles ringsum lärmte und lachte, doch vermochte Fandorin die Stimmen nicht auseinanderzuhalten. Der Champagner stieg ihm prickelnd in die Nase, die Augen füllten sich mit Tränen.
»Was sagst du zu meinem Jean?« Der Graf kicherte. »Ruck, zuck hat er die Patronen aus dem Magazin geholt. Das nenn ich fingerfertig, oder etwa nicht, sag doch mal?«