»Fingerfertig«, stimmte Fandorin teilnahmslos zu.
»Kann man wohl sagen. Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?«
»Erast.«
»Na, dann komm, Erast von Rotterdam, laß uns auf einen Cognac in mein Arbeitszimmer gehen, ich hab die Nase voll von diesen Visagen.«
»Erasmus«, korrigierte Fandorin mechanisch.
»Was?«
»Erasmus, nicht Erast.«
»Entschuldigung, ich hatte mich verhört. Gehen wir, Erasmus.«
Gehorsam stand Fandorin auf und folgte dem Gastgeber. Sie gingen durch eine Flucht von Räumen ohne Licht und landeten in einem runden Zimmer, wo bemerkenswerte Unordnung herrschte: Jede Menge Tabakspfeifen und leere Flaschen lagen umher, auf dem Tisch erblickte er ein Paar bildschöne silberne Sporen und in einer Ecke gar einen übertrieben schicken englischen Sattel. Was daran ein Arbeitszimmer sein sollte, war Fandorin schleierhaft - es gab weder Bücher, noch Schreibutensilien zu entdecken.
»Hübsches Sattelchen, was?« prahlte Surow. »Hab ich gestern bei einer Wette gewonnen.«
Er goß Branntwein aus einer bauchigen Flasche in zwei Gläser, setzte sich neben Fandorin und sagte in plötzlich sehr ernstem, ja, innigem Ton: »Verzeih mir Rindvieh den dummen Scherz. Erasmus, ich langweile mich. Eine Menge Leute kommen zu mir, nur keine Menschen. Ich bin achtundzwanzig, Fandorin, und fühle mich wie sechzig. Vor allem morgens, nach dem Aufwachen. Abends und nachts, da geht es noch - da drehe ich auf, spiele den Hanswurst. Aber das ist widerlich. Früher fand ich es nicht übel, heute widert es mich immer mehr an. Ob du’s glaubst oder nicht, vorhin, als wir alles auf eine Karte setzten, da kam mir der Gedanke: Eigentlich sollte man sich wirklich erschießen. Es war plötzlich richtig verlockend . Warum sagst du nichts? Komm, Fandorin, sei mir nicht böse. Ich wäre sehr froh, wenn du mir die Sache nicht nachtrügst. Was kann ich tun, damit du mir vergibst, Erasmus, sag?«
Und da antwortete Fandorin mit etwas knarrender, doch vernehmlicher Stimme: »Erzähl mir von ihr. Von der Be- shezkaja.«
Surow warf sich eine lockige Strähne aus der Stirn.
»Ach, stimmt ja. Du gehörst zur Schleppe.«
»Zur was?«
»Das ist so mein Wort dafür. Amalia ist die Königin, sie braucht eine Schleppe, aus Männern. Je länger, desto besser. Hör auf meinen Rat und schlag sie dir aus dem Kopf, sonst gehst du unter. Vergiß sie.«
»Das kann ich nicht«, antwortete Fandorin aufrichtig.
»Du bist noch ein junger Dachs, Amalia zieht dich unweigerlich in den Strudel, das hat sie schon mit vielen getan. Vielleicht hat sie gerade darum einen Narren an mir gefressen, weil ich nicht darauf aus war, mich in ihren Strudel ziehen zu lassen. Kein Bedarf, ich hab meinen eigenen. Der ist nicht so tief wie ihrer, aber für mich langt er allemal.«
»Liebst du sie?« Fandorin kühlte sein Mütchen mit einer dreisten Frage.
»Ich fürchte sie!« Surow grinste trübselig. »Mehr, als daß ich sie liebe. Und im Grunde ist es überhaupt gar keine Liebe. Hast du schon mal Opium geraucht?«
Fandorin schüttelte den Kopf.
»Wer es einmal probiert hat, kommt sein Leben lang nicht davon los. Genauso ist es mit ihr. Sie läßt mir einfach keine in Ruhe! Dabei sehe ich, daß sie mich verachtet, ich bin ihr keinen Heller wert, auch wenn sie irgend etwas an mir zu finden scheint. Zu meinem Unglück! Wenn du wüßtest, wie froh ich bin, daß sie fort ist, bei Gott! Ich hatte schon daran gedacht, sie umzubringen, die Hexe. Sie eigenhändig zu erwürgen, damit die Qual ein Ende hat. Und das hat sie sehr genau gespürt. Sie ist klug, mein Lieber! Es gefiel ihr an mir, es war für sie wie ein Spiel mit dem Feuer: Mal bläst sie hinein, es zu schüren, mal pustet sie es aus, immer auf der Hut, daß kein Brand ausbricht, der ihr gefährlich werden könnte. Wozu soll sie mich sonst nötig gehabt haben?«
Neiderfüllt konstatierte Fandorin, daß Ippolit Surow irrte: Sein hübscher Wirrkopf war durchaus der Liebe wert. So einer konnte sich gewiß vor Frauen kaum retten. Daß manche ein solches Glück hatten! Doch gehörte diese Erwägung nicht zur Sache. Und in dieser Sache waren noch einige Fragen offen.
»Wer ist sie, woher kommt sie?«
»Das weiß ich nicht. Über sich selbst schweigt sie sich aus. Ich weiß nur so viel, daß sie irgendwo in der Fremde aufgewachsen ist. Anscheinend in der Schweiz, in irgendeinem Pensionat.«
»Und wo ist sie jetzt?« fragte Fandorin, ohne eine Auskunft von Wert zu erhoffen.
Surow aber zögerte so sichtlich mit einer Antwort, daß Fandorin hellwach wurde.
»Pressiert wohl sehr?« brummte der Graf, und eine hämische Grimasse entstellte für einen Moment sein schönes, launisches Gesicht.
»Ja!«
»Na, schön. Wenn es die Motte zur Kerze zieht, verbrennt sie früher oder später sowieso.«
Surow wühlte in dem Berg von Spielkarten, zerknüllten Taschentüchern und Rechnungen auf seinem Tisch.
»Wo hab ich ihn zum Teufel noch mal? Ah, ich weiß .«
Er öffnete eine kleine japanische Schatulle - lackiert, mit einem Schmetterling aus Perlmutt auf dem Deckel. »Da hast du ihn! Kam mit der städtischen Post.«
Mit bebenden Fingern nahm Fandorin das schmale Kuvert entgegen, auf dem in flüssiger, fliehender Handschrift stand:
An Seine Durchlaucht den Grafen Ippolit Surow, Jakowo- Apostolski-Gasse, im Hause desselben.
Dem Stempel nach zu urteilen, war der Brief am 16. Mai abgeschickt worden - der Tag, an dem die Beshezkaja verschwunden war.
In dem Kuvert steckte ein Blatt mit kurzer Notiz auf französisch, ohne Unterschrift: Mußte abreisen, ohne Gelegenheit zum Abschied. Schreib mir nach London, Gray Street, Hotel Winter Queen, für Miss Olsen. Ich warte. Wage es ja nicht, mich zu vergessen.
»Und ich wage es doch!« fuhr Surow hitzig auf, um gleich darauf in sich zusammenzusinken. »Jedenfalls will ich es versuchen. Nimm ihn mit, Erasmus. Tu damit, was du magst. Wo willst du hin?«
»Ich gehe«, sagte Fandorin, während er das Kuvert in seine Tasche steckte. »Es eilt.«
»O je!« Der Graf nickte mitleidig. »Dann troll dich, flieg schnell hin zum Feuer. Es ist dein Leben, nicht meines.«
Auf dem Hof wurde Fandorin von Jean eingeholt, der ein Päckchen in der Hand hielt.
»Hier, mein Herr, Sie haben es vergessen.«
»Was ist das?« fragte Fandorin, sich unwillig umdrehend.
»Sie machen mir Spaß. Ihr Gewinn natürlich. Seine Durchlaucht befahlen, ihn nachzutragen und auszuhändigen.«
Fandorin hatte einen wundersamen Traum.
Er saß in seiner Schulbank im Klassenzimmer des Gouvernementsgymnasiums. Träume dieser Art, meist aufregend und unbehaglich, hatte er nicht selten: Plötzlich war er wieder der Gymnasiast, der in der Physik- oder Algebrastunde an die Tafel gerufen worden war und »schwamm«. Diesmal aber war es nicht nur prekär, sondern richtig zum Fürchten. Und Fandorin begriff nicht, wieso. Er stand ja nicht an der Tafel, er saß auf seinem Platz, die Mitschüler um sich: Iwan Brilling, Achtyrzew, außerdem ein reizender Knabe mit hoher, blasser Stirn und herausfordernden braunen Augen (Fandorin wußte, daß es Kokorin war), zwei Mädchen in weißen Schürzen und noch einer, der mit dem Rücken zu ihm saß. Der war es, vor dem Fandorin sich fürchtete, er bemühte sich, ihn zu übersehen, drehte den Hals statt dessen immerfort nach den Mädchen, von denen die eine schwarz, die andere blond war. Brav die schmalen Hände vor sich gelegt, saßen sie in ihrer Bank. Jetzt sah er: Es waren Amalia und Lisanka. Erstere sandte einen sengenden Blick aus ihren schwarzen Augen, streckte die Zunge heraus; Li- sanka hingegen lächelte verschämt und senkte die dichten Wimpern. Nun erst sah Fandorin Lady Aster an der Tafel stehen, den Zeigestock in der Hand, und alles war klar: Hier praktizierte man die neueste englische Erziehungsmethode, bei der Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. Und das ging sehr gut. Doch als hätte Lady Aster diesen Gedanken gehört, lächelte sie bitter und sagte: »Nein, von wegen Koedukation, ihr seid meine Waisenklasse. Ihr alle seid arme Waisenkinder, und ich muß euch auf den rechten Weg führen.« - »Aber erlauben Sie, Mylady«, widersprach Fandorin, »ich weiß aus sicherer Quelle, daß Lisanka keine Waise ist, sie ist die Tochter eines Wirklichen Geheimrats.« - »»Oh, my sweet boy«, sagte die Lady und wurde noch trauriger dabei, »sie ist ein unschuldiges Opfer, und das ist dasselbe wie ein Waisenkind.« Der furchterregende Jemand, welcher vor ihm saß, wandte sich nun langsam um, starrte ihn mit glasig weißen Augen an und flüsterte: »Ich, Asasel, bin auch ein Waisenkind!« Er zwinkerte verschwörerisch, dann fügte er - da hört sich doch alles auf! - mit Brillings Stimme hinzu: »Und darum, junger Freund, muß ich Sie töten, was ich zutiefst bedauere . He, Fandorin, was sitzen Sie da wie ein Ölgötze! Fandorin!«