Der junge Herr wollte wissen, ob Zimmer frei seien, und verlangte das beste, das zu haben war, mit heißem Wasser und Zeitungen; dann trug er sich unter dem Namen Erasmus von Dorn, ansässig in Helsingfors, in das Gästebuch ein. Der Portier bekam für nichts und wieder nichts einen halben Sovereign und nannte den verrückten Ausländer von nun an Your Lordsbip.
Indes hatte »Herr von Dorn« mit ernsthaften Zweifeln zu kämpfen. Daß die stilvolle Amalia Kasimirowna in diesem drittklassigen Hotel abgestiegen sein sollte ließ sich schwer vorstellen. Hier stimmte offensichtlich etwas nicht.
In seiner Verlegenheit traute er sich gar, den vor ihm katzbuckelnden Portier zu fragen, ob es denn in London noch ein weiteres Hotel dieses Namens gebe, worauf ihm hochheilig versichert wurde, es gebe weder ein solches, noch habe es je eins gegeben, wenn man freilich von jenem »Winter Queen« absah, welches sich zuvor an diesem Ort befunden habe und vor mehr als hundert Jahren bis auf die Grundmauern abgebrannt sei.
Sollte denn alles umsonst gewesen sein: die zwölftägige Rundreise durch Europa, der angeklebte Schnauzbart, die edle Equipage, gemietet in Waterloo Station anstelle einer gewöhnlichen Droschke, und schließlich der verausgabte halbe Sovereign?
Na, das Bakschisch wirst du mir zumindest noch abdienen, mein Freund! dachte Fandorin (belassen wir es, seines Inkognitos ungeachtet, bei diesem Namen).
»Sagen Sie, Teuerster, Sie beherbergen nicht zufällig eine gewisse Miss Olsen?« fragte er mit gespielter Beiläufigkeit und stützte den Ellbogen lässig auf den Tresen.
Die Antwort, wiewohl durchaus zu erwarten gewesen, versetzte Fandorins Herzen einen Stich.
»Nein, Mylord, eine Lady dieses Namens wohnt bei uns nicht und hat nie hier gewohnt.«
Und da er die Bestürzung in den Augen des Gastes gewahrte, ließ der Portier noch eine kleine Kunstpause verstreichen, ehe er diskret verkündete: »Wobei mir der Name, den Durchlaucht zu erwähnen beliebten, nicht ganz unbekannt ist.«
Fandorin schwankte kurz, ehe er eine weitere Goldmünze aus der Rocktasche angelte.
»Reden Sie.«
Der Portier beugte sich nach vorn und hüllte Fandorin in eine Wolke von billigem Kölnischwasser, während er ihm zuflüsterte: »Wir belieben Post zu empfangen, die an den Namen dieser Person gerichtet ist. Allabendlich um zehn Uhr kommt ein Mr. Morbid, dem Anschein nach ein Diener oder Haushofmeister, und holt die Briefe ab.«
»So ein Riese mit großen blonden Koteletten, der den Eindruck macht, als hätte er noch kein einziges Mal im Leben gelacht?« kam Fandorins Frage wie aus der Pistole geschossen.
»Jawohl, Mylord, das ist er.«
»Treffen denn öfters Briefe ein?«
»Beinahe täglich, Mylord, und mitunter gleich mehrere. Heute zum Beispiel«, der Portier sah vielsagend zu einem Schrank mit vielen Fächern hinüber, »kamen ganze drei.«
Die Andeutung wurde verstanden.
»Ich würde gern einen Blick auf die Umschläge werfen - nur so, aus reiner Neugier«, bemerkte Fandorin und klopfte mit dem nächstfälligen halben Sovereign auf den Tresen.
Die Augen des Portiers funkelten in fiebrigem Glanz: Hier ging etwas Unerhörtes, schwer zu Fassendes vor, das nichtsdestoweniger äußerst willkommen war.
»Es ist strengstens verboten, müssen Sie wissen, Mylord, aber ... Wenn es nur darum geht, einen Blick auf die Umschläge ...«
Gierig griff Fandorin nach den Briefen, doch er wurde enttäuscht: Die Umschläge waren ohne Absender. Den dritten Obolus hatte er wohl umsonst berappt. Zwar hatte der Chef einen jeglichen Aufwand sanktioniert, sofern er »der Vernunft angemessen und der Sache dienlich« sei . Was sagten übrigens die Stempel?
Die Stempel machten Fandorin nachdenklich: Ein Brief war in Stuttgart aufgegeben, der zweite in Washington, der dritte gar in Rio de Janeiro. Immerhin!
»Läßt Miss Olsen seit längerem ihre Korrespondenz hier eingehen?« fragte Fandorin, während er in Gedanken überschlug, wieviel Zeit so ein Brief brauchte, über den Ozean zu schwimmen. Und zuvor mußte dafür gesorgt sein, daß die hiesige Adresse nach Brasilien gelangte! Ein merkwürdiges Verfahren. Dabei konnte die Beshezkaja höchstens drei Wochen in England sein.
Die Antwort überraschte ihn.
»Seit längerem, Mylord. Als ich hier meinen Dienst antrat, was jetzt vier Jahre her ist, kamen die Briefe schon.«
»Wie bitte? Bringen Sie da nichts durcheinander?«
»Wenn ich es Ihnen sage, Mylord. Mr. Morbid ist wohl erst seit kurzem in Miss Olsens Diensten, seit Anfang des Sommers. Vor ihm war es ein Mr. Moebius, der die Post holen kam, und noch davor ein Mr. . hm, sorry, ich habe vergessen, wie der Mann hieß. Ein recht unauffälliger Gentleman, und redselig war er auch nicht.«
Gar zu gern hätte Fandorin in die Briefe hineingeschaut. Forschend blickte er seinem Informanten ins Gesicht. Nein, der würde wohl nicht dichthalten. Aber der frischgebackene Titularrat und diplomatische Kurier erster Kategorie hatte eine bessere Idee.
»Jeden Abend um zehn, sagten Sie, kommt dieser Mr. Morbid?«
»Auf die Minute, Mylord.«
Fandorin legte noch einen viertel Sovereign auf den Tresen, beugte sich darüber und flüsterte dem Glückspilz von Portier etwas in das geneigte Ohr.
Die Zeit, die bis um zehn verblieb, wurde auf die allerproduktivste Weise genutzt.
Als erstes ölte und lud Fandorin seinen kurierdienstlichen Colt. Dann begab er sich in das Badezimmer und füllte, bei wechselweisem Betätigen des Warm- und des Kaltwasserhebels, die Wanne, was ungefähr fünfzehn Minuten in Anspruch nahm. Eine halbe Stunde ließ er es sich wohl sein, dann war das Wasser kalt, und der Plan für das weitere Vorgehen stand endgültig fest.
Nachdem er sich den Schnauzbart wieder angeklebt und sein Spiegelbild mit einigem Wohlgefallen betrachtet hatte, schlüpfte Fandorin in das Kostüm des unauffälligen Engländers: schwarze Melone, schwarzes Jackett, schwarze Hose, schwarze Krawatte. In Moskau hätte man ihn vermutlich für einen Sargträger gehalten - hier in London durfte er hoffen, sich auf diese Weise unsichtbar zu machen. Und nachts kam der Aufzug erst recht gelegen: Ließ man das Hemd vorn hinter den Revers verschwinden und schlug die Manschetten zurück, so löste man sich in den Fängen der Nacht buchstäblich auf - was für den gefaßten Plan sehr vonnöten war. Blieben noch anderthalb Stunden für einen Spaziergang, um die nähere Umgebung kennenzulernen. Erast Fandorin bog von der Gray Street in eine größere Straße ein, wo es von Equipagen wimmelte, und fand sich kurze Zeit später vor dem berühmten Old-Vic-Theatre wieder, das im Stadtführer ausführlich beschrieben war. Er lief ein Stück weiter und sah vor sich - wie seltsam! - die bekannten Umrisse von Waterloo Station; die Kutsche hatte gute vierzig Minuten gebraucht, ihn von hier ins »Winter Queen« zu befördern, wofür der Kutscher, dieser Schuft, ihm fünf Shilling abknöpfte. Schließlich tauchte, in der Abenddämmerung ungemütlich grau, die Themse vor ihm auf. Fandorin schauderte, als er in ihre trüben Fluten blickte, ihn überkam eine böse Vorahnung. Überhaupt fühlte er sich unbehaglich in dieser fremden Stadt. Die Passanten schauten an ihm vorbei, nicht einer blickte ihm ins Gesicht, was in Moskau - sagen Sie selbst! - ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Zugleich wurde Fandorin das merkwürdige Gefühl nicht los, als bohrte sich ein böser Blick in seinen Rücken. Ein paarmal drehte er sich um, und einmal war ihm tatsächlich, als sähe er eine schwarzgewandete Gestalt hinter eine der Theatersäulen huschen. Von da an riß Fandorin sich zusammen, verfluchte seine übertriebene Ängstlichkeit und wandte den
Blick kein weiteres Mal zurück. Immer diese verdammten Nerven! Er zweifelte sogar, ob er mit der Verwirklichung seines Planes nicht besser bis zum nächsten Abend warten sollte. Dann hätte er am Morgen noch die Botschaft aufsuchen und jenen geheimnisvollen Schriftführer Pyshow treffen können, den der Chef ihm empfohlen hatte. Doch allzuviel bange Vorsicht war peinlich und Zeit ohnehin keine zu verlieren, beinahe drei Wochen waren ins Land gegangen - für Bagatellen.