Die Europareise war weniger angenehm verlaufen, als Fan- dorin im ersten Überschwang erwartet hatte. Das ganze jenseits des Grenzpunkts Wirballen gelegene Territorium deprimierte ihn auf Grund seiner gravierenden Unähnlichkeit mit den schlichten heimatlichen Weiten. Fandorin hatte aus dem Zugfenster geblickt und darauf gewartet, daß die adretten Dörfchen und Spielzeugstädtchen aufhörten und eine normale Landschaft anfinge, doch je weiter der Zug sich von der russischen Grenze entfernte, um so schneeweißer wurden die Häuser und um so pittoresker die Städte. Fandorin schnürte es die Brust immer enger, loszuflennen erlaubte er sich jedoch nicht. Letzten Endes, so sagte er sich, ist nicht alles Gold, was glänzt; die Schwermut ließ sich von diesem Gedanken nicht verdrängen.
Später gewöhnte er sich schon ein bißchen an das, was er zu sehen bekam, ja, es schien ihm bereits, als wäre Moskau gar nicht so viel schmutziger als Berlin und der Kreml samt den goldenen Kirchenkuppeln etwas, wovon die Deutschen nur träumen konnten. Andere Mißlichkeiten beschäftigten ihn nun weit mehr: Der Militärattache
der russischen Botschaft, dem Fandorin ein versiegeltes Paket ausgehändigt hatte, hieß ihn die Reise einstweilen unterbrechen und auf eine Geheimkorrespondenz warten, die nach Wien weiterzubefördern war. Das Warten währte eine ganze Woche, und Fandorin war es längst leid, im Schatten Unter den Linden dahinzuschlendern und sich an den wohlgenährten Schwänen der Berliner Parkanlagen zu freuen.
Gleiches widerfuhr ihm in Wien, nur daß er diesmal fünf Tage auf ein für den Pariser Militärattache bestimmtes Paket zu warten hatte. Fandorin wurde nervös bei dem Gedanken, »Miss Olsen« könnte in der Zwischenzeit das Hotel verlassen, ohne noch länger auf eine Botschaft ihres Ippolit zu warten, denn dann wäre sie wohl auf immer und ewig verschollen. Seine Nervosität zu bekämpfen, saß er viel in Kaffeehäusern herum, verspeiste Unmengen von Mandeltorte und trank literweise Creme-Soda dazu.
Dafür ergriff er in Paris sogleich die Initiative: Für ganze fünf Minuten ließ er sich in der russischen Vertretung sehen, drückte dem bevollmächtigten Oberst die Dokumente in die Hand und tat dabei unmißverständlich kund, daß er in besonderer Mission unterwegs und zu keiner Stunde Aufenthalt befugt sei. Für die fruchtlose Zeitverschwendung der letzten Wochen strafte er sich selbst, indem er darauf verzichtete, Paris zu besichtigen, und nur mit dem Fiacre die neuen, unlängst von Baron Haussmann geschlagenen Boulevardschneisen Richtung Gare du Nord fuhr. Auf dem Rückweg würde dafür immer noch Zeit sein.
Um Viertel vor zehn saß Fandorin, hinter einer zu Zwecken der Observation mit einem Löchlein versehenen Ausgabe der »Times« versteckt, im Vestibül des »Winter Queen«. Auf der Straße stand die vorsorglich gemietete Droschke bereit. Der Portier hielt sich an die Instruktionen und schaute demonstrativ nicht in die Richtung, wo der so gar nicht sommerlich gekleidete Hotelgast mit der Zeitung saß; er gab sich sogar Mühe, ihm den Rücken zuzukehren.
Drei Minuten nach zehn schellte das Glöckchen, die Tür ging auf, und ein Hüne von Mann in grauer Livree betrat das Vestibül. Er war es: »John Karlytsch«! Fandorins Auge saugte sich an dem Zeitungsblatt fest, das über den Ball des Prinzen von Wales berichtete.
Verstohlen ging der Blick des Portiers jetzt nach dem zur unrechten Zeit in seine Lektüre vertieften Mr. von Dorn herüber, noch dazu ließ dieser Gauner die buschigen Brauen auf und nieder tanzen, was das Objekt glücklicherweise nicht bemerkte beziehungsweise zu bemerken geflissentlich vermied.
Die Droschke war nicht umsonst bestellt. Es zeigte sich, daß der Lakai nicht zu Fuß, sondern mit einem sogenannten »Egoisten« gekommen war, einem jener Einspänner, die nur einer einzigen Person Platz boten; gezogen wurde er von einem stämmigen Rappen. Auch der einsetzende Nieselregen kam gerade recht, denn so klappte John Karlytsch das lederne Verdeck nach oben und hätte nun, selbst wenn er darauf aus gewesen wäre, den Verfolger gar nicht bemerken können.
Der Befehl, dem Mann in der grauen Livree zu folgen, erstaunte den Kutscher nicht im geringsten; er knallte mit seiner langen Peitsche, und der Plan trat in seine erste Phase.
Es war bereits dunkel. Die Straßenlaternen brannten, doch Fandorin, ortsunkundig, verlor in den immer gleich aussehenden steinernen Karrees dieser fremden, beängstigend verschwiegenen Stadt sehr bald die Orientierung. Nach einiger Zeit wurden die Häuser spärlicher und niedriger, Bäume hoben sich schemenhaft aus der Dunkelheit ab, und nach einer weiteren Viertelstunde begannen von Gärten umgebene Villen sich entlang der Straße zu reihen. Vor einer blieb der »Egoist« stehen, ein riesiger Schatten löste sich von ihm, John Karlytsch öffnete das Gittertor. Fandorin lehnte sich aus der Droschke und sah den Einspänner auf das umzäunte Gelände fahren, wonach das Tor wieder geschlossen wurde.
Der gewitzte Kutscher brachte sein Pferd ohne Aufforderung zum Stehen, wandte sich um und fragte:
»Möchten Sie, daß die Polizei von dieser Fahrt etwas erfährt, Sir?«
»Hier haben Sie eine Krone, tun Sie, was Sie für richtig halten!« erwiderte Fandorin, da er beschlossen hatte, den Mann nicht warten zu lassen - der schien ihm zu pfiffig. Ohnehin war unklar, wann die Rückfahrt anstand. Vor ihm lag nichts als Ungewißheit.
Sich über den Zaun zu schwingen fiel ihm nicht schwer. In seiner Schulzeit hatte Fandorin ganz andere Zäune bezwungen.
Der Garten erwies sich als wenig einladend - er war voll schrecklicher Schatten und stachliger Gehölze. Zwischen den Bäumen schimmerten die Umrisse eines zweistöckigen Gebäudes mit gewölbtem Dach. Darauf bedacht, so leise wie möglich aufzutreten, kämpfte Fandorin sich zu den letzten Büschen vor (Fliederduft, vermutlich eine englische Sorte). Von hier begann er mit der Aufklärung.
Das Haus durfte mit Fug und Recht eine Villa genannt werden. Am Portal brannte eine Laterne. Mehrere Fenster im Parterre waren hell erleuchtet, dort wohnten vermutlich die Bediensteten. Interessanter kam ihm das schwach leuchtende Fenster im ersten Stock vor - doch wie hinaufgelangen? Daß unweit davon das Fallrohr der Dachrinne verlief, schien günstig; zudem war die Hauswand von rankendem Pflanzenwuchs überzogen, der recht guten Halt versprach.
Die Gewohnheiten einer nicht sehr fernen Jugend schienen sich einmal mehr bezahlt zu machen.
Als schwarzer Schatten huschte Fandorin zur Hauswand hinüber und rüttelte an dem Fallrohr. Es schien stabil, klapperte nicht. Die existentielle Erfordernis, jedes Poltern zu vermeiden, ließ den Aufstieg gemächlicher vorangehen, als Fandorin es sich gewünscht hätte. Endlich ertastete der Fuß einen Sims, der glücklicherweise um das gesamte Stockwerk herumlief. Aus Vorsicht krallte Fandorin die Finger in das Gerank aus Efeu, wildem Wein und irgendwelchen Lianen (der Teufel wußte, wie diese schlangenartigen Triebe in Wirklichkeit hießen), ehe er begann, sich in winzigen Schritten auf das ersehnte Fenster zuzubewegen.
Zunächst war er bitter enttäuscht: In dem Zimmer war niemand. Das Licht einer Lampe mit rosa Schirm fiel auf einen gediegenen Schreibtisch, wo irgendwelche Papiere lagen; in der Ecke schien ein Bett zu stehen. Unklar, ob das ein Arbeitszimmer war oder ein Schlafgemach. Fandorin harrte an die fünf Minuten aus, in denen nichts weiter passierte, als daß sich ein fetter Nachtfalter auf den Lampenschirm setzte und mit den pelzigen Flügeln zuckte. Blieb Fandorin etwas anderes, als zurückzukriechen? Oder sollte er riskieren, ins Innere einzudringen? Sacht drückte er gegen die Fensterschenkel, sie gaben sofort nach. Fandorin zauderte. Zieh sich des Wankelmuts, der Feigheit. Und mußte im nächsten Moment feststellen, daß es gut gewesen war abzuwarten: Denn nun ging die Tür auf, und zwei Personen traten ein - eine Frau und ein Mann.