Erstes Moskauer Asternat
Die prominente englische Baronin Aster, dank deren Wohltätigkeit bereits in verschiedenen Ländern mustergültige Heime für Waisenjungen, so genannte Asternate, entstanden, erklärte auf Anfrage unseres Korrespondenten, daß nun auch in der Stadt mit den goldenen Kuppeln eine erste derartige Einrichtung im Aufbau begriffen sei. Lady Aster, die seit vorigem Jahr in Rußland initiativ ist und zunächst ein Asternat in Petersburg gründete, wird somit auch die Moskauer Waisen beglücken...
Hm, hm ...
... erweisen die Moskauer ihre große Dankbarkeit... wagen wir zu fragen: Wo sind Sie, unsere Owens und Asters? ...
Na gut, Gott hab’ die Waisenkinder selig. Und was gibt es hier?
Zynische Eskapade
Aha. Interessant.
Gestern ereignete sich im Alexandergarten ein bedauerlicher Vorfall, der vom herrschenden Zynismus unter der heutigen Jugend Zeugnis ablegt. Vor den Augen der Spaziergänger erschoß sich der Student der Moskauer Universität N. properer Alleinerbe eines Millionenvermögens, im blühenden Alter von 23 Jahren.
Oho!
Vor Ausführung der sinnlosen Tat soll N. wie Augenzeugen berichten, seinem Hochmut öffentlich freien Lauf gelassen und mit dem Revolver herumgefuchtelt haben. Anfänglich hielt man sein Benehmen für den Unernst eines Betrunkenen, doch N. scherzte nicht, schoß sich in den Kopf und war auf der Stelle tot. In der Tasche des Selbstmörders fand sich eine empörend gotteslästerliche Notiz, aus welcher hervorgeht, daß N.s Tat weder in plötzlicher Aufwallung noch infolge eines Deliriums tremens geschah. So ist man nun also vor der neumodischen Epidemie sinnloser Selbstmorde, wie sie bislang vor allem Petersburg geißelte, auch in den Mauern Moskaus nicht mehr sicher. Was für Zeiten, was für Sitten! möchte man ausrufen. Welch Ausmaß an Unglauben und Nihilismus unter der goldenen Jugend, da sie noch den eigenen Tod zur Buffonade inszeniert! Wie kann man von ihnen, unsere Brutussen, die so wenig vom eigenen Leben halten, erwarten, daß ihnen das Leben anderer, anständiger Leute einen Heller wert ist? Hierauf passen im übrigen die Worte unseres verehrten Fjodor Michailowitsch Dostojewski in der gerade erschienenen Mainummer seines »Tagebuch eines Schriftstellers«, wo es heißt: »Ihr Lieben, Guten, Braven (doch, doch, das seid Ihr!), wohin wollt Ihr, was zieht es Euch in dieses Grab ohne Licht und ohne Luft? Seht, am Himmel strahlt die Frühlingssonne, die Knospen platzen an den Bäumen, Ihr aber seid des Lebens müd, das Ihr noch gar nicht gelebt.«
Xaveri Gruschin schniefte gerührt und warf dann einen prüfenden Blick auf seinen jungen Gehilfen - der hatte die Anwandlung hoffentlich nicht bemerkt! -, um gleich darauf deutlich nüchterner fortzufahren: »Na und so weiter, und so weiter. Mit den Zeiten hat das übrigens gar nichts zu tun. Als ob daran etwas Verwunderliches wäre! Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis, sagt man von solchen seit alters her. Ein Millionenerbe! Wer das wohl sein mag? Und die Herren Reviervorsteher, diese Schelmen, schreiben jeden Kinkerlitz in ihre Rapporte, nur das hier nicht. Da dürfen wir nun wieder auf die Sammelberichte warten! Obwohl, na ja, eigentlich wird’s an dem Fall nichts zu deuteln geben: Selbstmord vor Zeugen . Man wüßte trotzdem gern Genaueres. Alexandergarten, das ist Stadtmitte, zwotes Revier. Wissen Sie was, Erast Petrowitsch, seien Sie doch so nett und laufen Sie schnell mal zu denen rüber in die Mochowaja. Schützen Sie eine allgemeine Inspektion vor oder so etwas. Bringen Sie in Erfahrung, wer dieser N. war. Und vor allem, mein Lieber, kopieren Sie den Abschiedsbrief, damit ich ihn meiner Jewdokija zum Abendbrot zeigen kann, sie mag derlei Herzensergüsse. Und bitte nicht säumen, seien Sie rasch zurück!«
Die letzten Worte waren schon in den Rücken des Kollegienregistrators gesprochen, der es so eilig hatte, seinen trostlosen wachstuchbespannten Schreibtisch zu verlassen, daß er um ein Haar die Dienstmütze vergessen hätte.
Auf besagtem Revier wurde der junge Kriminalbeamte sogleich zum Vorsteher geführt. Der jedoch, als er sah, daß keine Person von Rang erschienen war, sparte sich jegliches Palaver und rief seinen Gehilfen.
»Bitte Iwan Prokofjewitsch zu folgen!« sagte er liebenswürdig zu dem Besucher (der, obzwar ein Grünschnabel, immerhin von der vorgesetzten Behörde kam). »Er wird Ihnen alles Nötige vorweisen und darlegen. Ist gestern extra noch in der Wohnung des Toten gewesen. Und Xaveri Feofilaktowitsch, bitteschön, meine ergebensten!«
Fandorin wurde an einem hohen Schreibpult plaziert und alsbald mit einem dicken Aktenordner versorgt.
ERMITTLUNGSAKTE betr. Selbsttötung des Ehrenbürgers von Geburt Pjotr Alexandrowitsch KOKORIN,
23 Jahre, Student der Juristischen Fakultät der Moskauer Kaiserlichen Universität.
Eröffnet am 13. Mai 1876. Geschlossen am 18...
Fandorin knüpfte mit vor Spannung zitternden Fingern die Schnüre des Ordners auf.
»Alexander Artamonowitsch Kokorins Einziger!« erläuterte Iwan Prokofjewitsch, ein schlaksiger, eifernder Adlatus mit knittrigem Gesicht. »Der Alte war steinreich. Fabrikant. Ist vor drei Jahren verschieden. Und hat alles dem Sohn vermacht. Ein sorgloses Leben hätte das Studentlein führen können. Was fehlt solchen denn noch?«
Fandorin nickte, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte, und vertiefte sich in die Lektüre der Zeugenaussagen. Es gab ein gutes Dutzend Protokolle, das umfangreichste enthielt die Aussagen eines Fräulein Elisabeth (17), Tochter des Wirklichen Geheimrats Ewert-Kolokolzew, und ihrer Gouvernante Emma Pfuhl (48), mit denen der Selbstmörder unmittelbar vor dem Schuß einen Wortwechsel hatte. Im übrigen erfuhr Fandorin aus den Protokollen nur, was der Leser schon weiß - sämtliche Zeugen sagten mehr oder weniger dasselbe aus, wobei ihre Intuition augenscheinlich verschieden ausgeprägt war: Die einen behaupteten, der Anblick des jungen Mannes habe in ihnen sofort eine böse Ahnung wachgerufen (»Wie ich in seine wahnsinnigen Augen blickte, da wurde mir das Herz kalt«, äußerte Frau Titularrätin Chochrjakowa, die im weiteren jedoch angab, den jungen Mann nur von hinten gesehen zu haben); andere Zeugen wiederum sprachen von einem Blitz aus heiterem Himmel.
Zuunterst im Ordner lag ein zerknitterter hellblauer Zettel mit Monogramm. Sofort saugten sich Fandorins Augen an den unregelmäßigen (augenscheinlich in großer Erregung niedergeschriebenen) Zeilen fest.
An die Nachwelt!
Wenn Ihr diesen Brief lest, heißt das, ich habe Euch schon verlassen und das Geheimnis des Todes erfahren, welches mit sieben Siegeln vor Euch verschlossen ist. Ich bin frei, während Ihr weiterleben und Euch mit Ängsten plagen müßt. Doch wette ich, daß dort, wo ich nun bin und von wo, wie sich ein dänischer Prinz auszudrücken beliebte, kein Wanderer wiederkehrt, in Wirklichkeit gar nichts ist. Wer anderer Meinung ist, der möge es prüfen und mir nachfolgen. Im übrigen habe ich mit
Euch allen nicht das geringste am Hut und schreibe diesen Brief nur, damit Ihr nicht etwa auf den Gedanken verfallt, ich könnte irgendeiner rührseligen Lappalie wegen Hand an mich gelegt haben. Eure Welt kotzt mich an, das ist fürwahr Grund genug. Und daß ich keiner von den miesen Schurken bin, darüber legt eine lederne Mappe Zeugnis ab.
Pjotr Kokorin
Klingt nicht nach großer Erregung!, war Fandorins erster Gedanke.
»Wie meint er das mit der ledernen Mappe?« fragte er.
Iwan Prokofjewitsch zuckte die Schultern.
»Da war keine. Bedenken Sie, der Mann war völlig außer sich. Vielleicht hat er irgendwas vorgehabt und sich später anders überlegt oder einfach vergessen. Sieht so aus, als war der junge Herr nicht bei Trost gewesen. Bestimmt haben Sie gelesen, daß er noch die Trommel hat rotieren lassen? Es steckte, nebenbei gesagt, nur eine Patrone darin, eine von sechs möglichen. Wenn Sie mich fragen, wollte er sich überhaupt nicht erschießen, sondern nur ein bißchen Nervenkitzel - den Herzschlag des Lebens fühlen, wie man so sagt. Damit das Essen hinterher besser schmeckt und der Wein süßer.«