Aha! Die heute im Hotel für Miss Olsen eingegangenen Briefe stammten aus Rio de Janeiro, Washington und Stuttgart. Fandorin wühlte in dem Briefbündel und suchte den brasilianischen heraus. Er enthielt einen Briefbogen ohne Anrede und Unterschrift, mit einer einzigen Zeile:
30. Mai, Chef der kaiserlichen Leibwache, N° 1053F.
Die Beshezkaja übertrug also den Inhalt der Briefe, die sie erhielt, in Tabellen, die sie dann einem Monsieur oder eher Mister Nickolas Croog in Petersburg sandte. Zu welchem Zweck? Wieso Petersburg? Was hatte das alles zu bedeuten?
Die Fragen überstürzten sich, eine drängte sich vor die andere, nach Antworten zu sinnen blieb jedoch keine Zeit - im Bad hatte das Wasser zu rauschen aufgehört. Fandorin stopfte Briefe und Blätter hastig zurück in ihr Behältnis. Den Rückweg zum Fenster anzutreten schaffte er nicht mehr. Eine schmale weiße Gestalt erschien im Türrahmen und erstarrte.
Fandorin zog den Revolver aus dem Gürtel und befahl mit halb pfeifender, halb zischender Stimme: »Frau Beshezkaja - ein Ton, und ich schieße! Gehen Sie zum Tisch und setzen Sie sich! Schnell!«
Schweigend kam sie näher, fixierte ihn wie gebannt mit ihren funkelnden, bodenlosen Augen, setzte sich vor den Schreibtisch.
»Das haben Sie wohl nicht erwartet?« erkundigte sich Fan- dorin höhnisch. »Sie hielten mich für einen Dummkopf, nicht wahr?«
Amalia Beshezkaja schwieg, ihr Blick war aufmerksam und ein wenig erstaunt, so als sähe sie Fandorin zum ersten Mal.
»Was bedeuten diese Listen?« fragte er und fuchtelte mit dem Colt. »Was spielt Brasilien für eine Rolle? Wer verbirgt sich hinter den Nummern? Los, antworten Sie!«
»Sie haben sich rausgemacht«, gab die Beshezkaja mit unerwartet leiser, nachdenklicher Stimme von sich. »Ein richtiger Mann.«
Sie ließ den Arm sinken, und das Nachtgewand glitt ihr von der runden Schulter, die so weiß war, daß Fandorin schlucken mußte.
»Ein verwegener, streitsüchtiger Dummkopf«, sagte sie, immer noch so leise, und schaute ihm in die Augen. »Und sehr, sehr schön.«
»Wenn Sie glauben, Sie könnten mich in Versuchung führen, dann vertun Sie Ihre Zeit«, stieß er errötend hervor. »Ich bin nicht der Depp, für den Sie mich halten.«
»Sie sind ein armer Junge, der nicht einmal ahnt, worauf er sich eingelassen hat«, entgegnete Amalia kummervoll. »Ein armer, hübscher Junge. Und ich werde Sie nun nicht mehr retten können.«
»Denken Sie gefälligst an Ihre eigene Rettung!« Fandorin mühte sich, die verfluchte Schulter zu übersehen, die sich unterdessen noch mehr entblößt hatte. Konnte es eine so strahlend weiße Haut geben, so weiß wie Milch und Schnee?
Die Beshezkaja war aufgesprungen, Fandorin prallte zurück und hielt den Colt vor sich.
»Sitzenbleiben!«
»Keine Angst, mein Dummerchen. Diese hübschen roten Wangen! Darf man die anfassen?«
Sie streckte die Hand aus und berührte ihn mit den Fingern leicht im Gesicht.
»Ganz heiß! ... Was soll ich nur mit Ihnen machen?«
Ihre andere Hand legte sich auf seine Finger, die krampfhaft den Revolver hielten. Ihre matten Augen zwinkerten kein einziges Mal, und sie waren so nah, daß Fandorin darin zwei kleine rosa Lampen sehen konnte. Eine unbegreifliche Passivität nahm von ihm Besitz. Er erinnerte sich, daß Ippolit Surow ihn gewarnt hatte, von einer Motte hatte er gesprochen, doch die Erinnerung war so abstrakt, als beträfe sie ihn nicht.
Dann ging alles sehr schnell. Mit der Linken schob die Be- shezkaja den Colt zur Seite, mit der Rechten packte sie Fan- dorin beim Kragen und riß ihn zu sich heran, zugleich hieb sie ihre Stirn gegen seine Nase. Von dem scharfen Schmerz wurde Fandorin schwarz vor Augen, aber er hätte ohnehin nichts mehr sehen können, denn die Lampe flog krachend zu Boden, und ägyptische Finsternis zog ein. Vom nachfolgenden Stoß - mit dem Knie in den Bauch - knickte der junge Mann ein, seine Finger krümmten sich, das Zimmer wurde von einem Blitz erhellt, ein Schuß ertönte. Amalia japste nach Luft, ein kurzer Schrei, eher ein Greinen - und niemand schlug mehr auf Fandorin ein, niemand preßte ihm das Handgelenk. Er hörte einen Körper fallen. In seinen Ohren dröhnte es, Blut lief ihm in zwei Rinnsalen das Kinn herunter, Tränen entströmten seinen Augen, und in der Tiefe des Bauches geschah etwas, das ihm keine andere Wahl lassen wollte, als sich zusammenzurollen und zu warten, stöhnend, bis dieser unerträgliche Schmerz vorüberging. Das aber war ihm nicht vergönnt - von unten hörte er laute Stimmen, polternde Schritte.
Fandorin riß das Portefeuille vom Tisch und warf es aus dem Fenster, erklomm den Fensterstock und kletterte nach draußen, wobei er beinahe abgestürzt wäre, da eine Hand immer noch die Pistole hielt. Er wußte später nicht mehr, wie er das Fallrohr hinuntergekommen war, hatte Angst, das Portefeuille im Dunkeln nicht wiederzufinden, doch es lag gut sichtbar auf dem weißen Kies. Fandorin raffte es an sich und stürzte quer durch die Büsche davon, seine Gedanken rasten. Feiner diplomatischer Kurier ... Erschießt eine Frau ... Mein Gott, was mach ich jetzt, was mach ich jetzt ... Aber sie ist selber schuld . Ich wollte doch gar nicht . Wohin jetzt . Die Polizei wird mich suchen . Oder die anderen . Ein Mörder . In die Botschaft auf keinen Fall . Das Land verlassen, so schnell es geht . Geht nicht . Die suchen die Bahnhöfe ab, die Häfen . Für das Portefeuille kriechen die in jedes Loch . Abtauchen . Mein Gott, Herr Brilling, was tun, was tun?
Im Laufen blickte Fandorin um sich, und was er nun sah, brachte ihn zum Stolpern, beinahe wäre er hingeschlagen.
Im Gebüsch stand reglos eine schwarze Gestalt im langen Mantel, das Gesicht im Mondlicht fahl, zur Maske erstarrt, ein seltsam bekanntes Gesicht - Graf Surow!
Das war zuviel. Fandorin jaulte auf, warf sich mit letzter Kraft über den Zaun, tat erst einen Sprung nach rechts, dann einen nach links - von welcher Seite war er mit dieser verdammten Droschke gekommen? Egal! Er rannte einfach auf und davon.
ELFTES KAPITEL,
in welchem eine sehr lange Nacht geschildert wird
Auf der Isle of Dogs, in den engen Gassen hinter den Mill- wall Docks, bricht die Nacht schnell herein. Ehe man sich versieht, ist das Grau der Dämmerung ins Braune gekippt, und von den seltenen Straßenlaternen brennt jede zweite. Es ist schmutzig und trist, von der Themse weht es feucht, die Müllgruben stinken. Und keine Menschenseele in den Gassen; allenfalls im Umkreis einiger obskurer Pubs und billiger Absteigen pulsiert ein ungutes, gefährliches Leben.
In den Zimmern des »Ferry Road« kampieren ausgemusterte Matrosen, kleine Hochstapler und alternde Hafendirnen. Wer sechs Pence pro Tag übrig hat, darf über ein eigenes Zimmer mit Bett verfügen und muß keines Fremden Nase in seinen Angelegenheiten dulden. Bedingung ist jedoch, daß Fat Hugh, der Hausherr, jedes ramponierte Möbel, Prügeleien und nächtliches Krakeelen mit einem Shilling Strafgeld ahndet, und wer den nicht zahlen will, fliegt raus. Fat Hugh sitzt von früh bis spät in seinem kleinen Kontor am Eingang. Es ist ein strategischer Platz: Man sieht, wer kommt und geht, wer etwas hereinträgt oder hinauszutragen die Absicht hat. Bei dem gemischten Publikum muß man auf alles gefaßt sein.
Zum Beispiel dieser französische Kunstmaler mit den verfilzten roten Haaren, der da gerade am Hotelier vorbei in sein Eckzimmer huscht. Geld scheint dieser Froschfresser zu haben - anstandslos hat er eine Woche im voraus bezahlt, säuft nicht, hockt in seinem Zimmer, den Riegel vorgeschoben, es ist überhaupt das erste Mal, daß er das Haus verlassen hat, seit er hier wohnt. Hugh hat natürlich die Gelegenheit genutzt, bei ihm reinzuschauen, und raten Sie mal, was es da zu sehen gab? Nichts. Keine Farben, keine Bilder. Schöner Kunstmaler. Wohl eher ein Mörder, wer weiß - würde er sonst die Augen immerzu hinter dieser Sonnenbrille verbergen müssen? Sollte man dem Constable einen Wink geben? Die Miete für die Woche war ja im Kasten .