In diesem Moment (es war schon weit nach Mittag) wurde Fandorin von einer Erleuchtung heimgesucht. Wirklicher Staatsrat und Nihilist - das wollte einfach nicht zusammenpassen. Was den Chef der Leibwache des brasilianischen Kaisers anging, so ließ sich manches vorstellen, Fandorin war nie in Brasilien gewesen und hatte keine Ahnung von den dortigen Zuständen. Aber einen russischen Staatsdiener im Generalsrang mit einer Bombe in der Tasche - hier weigerte sich Fandorins Einbildungskraft entschieden. Einen Wirklichen Staatsrat kannte er von Angesicht: Fjodor Trifono- witsch Sewrjugin, Direktor des Gymnasiums, das er knappe sieben Jahre besucht hatte. Der und ein Terrorist? Nonsens!
Und plötzlich stockte Erast Fandorin der Atem. Natürlich! Die aufgeführten noblen Herrschaften waren keine Terroristen, sondern Opfer derselben! Nihilisten aller Länder, jeder mit einer Nummer chiffriert, meldeten dem revolutionären Zentralstab die verübten terroristischen Anschläge!
Obwohl . Nein. Im Juni war kein portugiesischer Minister umgebracht worden, das hätten die Zeitungen in jedem Fall gemeldet. Gut, dann ging es eben um potentielle Opfer, so war es! Die »Nummern« (ihre Namen fehlten aus Gründen der Konspiration) holten sich bei der Zentrale die Erlaubnis für den nächsten Terroranschlag ein.
Nun paßte eines zum anderen. Nun kam Licht in die Sache. Hatte Brilling nicht eine Spur erwähnt, die von Achtyr- zew zu einem Landhaus bei Moskau führte? Fandorin, von seinen eigenen Spionagephantasien in Anspruch genommen, hatte damals nicht richtig hingehört.
Stopp. Was hatte ein Dragonerleutnant auf der Liste zu suchen? So ein kleiner Fisch? Ganz einfach! gab sich Fan- dorin sogleich selbst die Antwort. Wahrscheinlich war denen der arme, namenlose Italiener zur Unzeit über den Weg gelaufen. Wie seinerzeit dem weißäugigen Übeltäter ein junger Kollegienregistrator von der Moskauer Kriminalpolizei.
Und was nun? Er saß untätig hier herum, derweil so viele ehrbare Leute in tödlicher Gefahr waren! Am meisten tat ihm der unbekannte Petersburger Generalmajor leid. Bestimmt ein untadeliger Mann, nicht mehr jung an Jahren, mit vielen Verdiensten, die Kinder womöglich noch klein ... Dabei sah es ganz so aus, als schickten diese Carbonari Monat für Monat ihre todbringenden Büttel aus. Kein Tag ohne Blutvergießen in ganz Europa! Und die Fäden liefen in Petersburg zusammen. Die Worte des Chefs fielen ihm ein: »Hier steht Rußlands Schicksal auf dem Spiel.« O weh, Herr Brilling, o weh, lieber Herr Staatsrat, nicht nur Rußlands Schicksal, das Schicksal der gesamten Weltzivilisation.
Schriftführer Pyshow mußte informiert werden. Diskret, damit kein Denunziant in der Botschaft Wind bekam. Nur wie? Denunziant konnte ein jeder sein, und für Fandorin war es gefährlich, sich in der Nähe der Botschaft blicken zu lassen, selbst als rothaariger Franzose im Malerkittel. Trotzdem, er mußte es riskieren. Ein Schreiben mit der städtischen Post an den Gouvernementssekretär Pyshow, »zu eigenen Händen«. Kein überflüssiges Wort - nur den Absender und beste Grüße von Iwan Brilling. Der Empfänger war klug genug, sich das übrige zu denken. Und die Londoner Post hatte den Ruf, jeden Brief binnen zwei Stunden an den Adressaten zu bringen.
So also war Fandorin vorgegangen, und nun war es Abend, und er saß da und wartete auf ein dezentes Klopfen an der Tür.
Geklopft wurde indes nicht. Es kam anders.
Spät abends, schon nach Mitternacht, saß Fandorin immer noch in dem verschlissenen Sessel, in dem das blaue Portefeuille versteckt war, und döste. Die Kerze auf dem Tisch war fast niedergebrannt, in den Zimmerecken ballten sich bedrohliche Schatten, draußen rumorte ein nahendes Gewitter. Es war schwül, und er fühlte eine Beklemmung, als hockte jemand schwer und unsichtbar auf seiner Brust, drückte ihm die Luft ab. Fandorin schaukelte auf der verschwommenen Grenze zwischen Wachsein und Schlaf. Wichtige, zweckdienliche Gedankengänge verstrickten sich plötzlich auf unnütze, hanebüchene Weise, bis der junge Mann auffuhr und den Kopf schüttelte, um sich aus Morpheus Armen zu befreien.
Als er wieder einmal auf diese Art erwacht war, ging Sonderbares vor. Zunächst war ein unbegreifliches leises Schaben zu hören. Dann sah Fandorin (und wollte seinen Augen nicht trauen), daß der im Schloß steckende Schlüssel sich von selbst zu drehen begann. Mit einem widerwärtigen Knarren ging die Tür nach innen auf, und eine wunderliche Erscheinung stand auf der Schwelle: ein kleiner, schmächtiger Mann unbestimmbaren Alters mit rundem, glattrasiertem Gesicht und schmalen, von Strahlenkränzen winziger Falten umgebenen Augen.
Fandorin zuckte, riß die Deringer vom Tisch, da gurrte die Erscheinung mit ausgesprochen angenehmer, warmer Tenorstimme, freundlichem Lächeln und beifälligem Kopfnicken: »Hier bin ich schon, mein liebes Kind. Porfinus Mar- tynowitsch aus dem Geschlecht der Pyshows, Sklave seines Herrn und Gouvernementssekretär. Auf den geringsten Wink zur Stelle. Wie der Wind auf Äolus’ Geheiß.«
»Wie haben Sie die Tür aufbekommen?« zischte Fandorin erschrocken. »Ich weiß genau, daß ich den Schlüssel zweimal herumgedreht habe!«
»Dafür haben wir einen magnetischen Dietrich«, gab der ersehnte Gast bereitwillig Auskunft und wies einen länglichen Vierkant vor, den er jedoch im nächsten Augenblick wieder in der Tasche verschwinden ließ. »Ein gar nützliches Ding. Hab ich einem hiesigen Langfinger abgeluchst. Bedauerlicherweise nötigt uns unser Handwerk, gräßliche Subjekte zu kontaktieren, den Bodensatz der Gesellschaft sozusagen. Les veritables miserables, das kann ich Ihnen sagen. Typen, wie Monsieur Hugo sie im Traum nicht gesehen hat. Nichtsdestoweniger handelt es sich um Menschenwesen, zu ihrer Seele sind Schleichwege offen. Gewissermaßen liebe ich sie sogar, diese Ausgeburten, und verleibe sie zu Teilen meiner Sammlung ein. Wie schon der Dichter sagte: Ein jeder lebt auf seine Weise, der Tod düpiert sie alle gleich. Oder mit alemannischer Zunge: Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen.«
Allem Anschein nach war das sonderbare Männlein darin begabt, mühelos und ohne Pause über jedes beliebige Thema zu schwadronieren, während seine flinken Äuglein keine Zeit verloren: Im Nu hatten sie Fandorin und ebenso die spärliche Einrichtung seiner Kammer einer gründlichen Inspektion unterzogen.
»Ich bin Erast Petrowitsch Fandorin, im Auftrag von Iwan Brilling unterwegs. In äußerst dringender Angelegenheit!« sagte der junge Mann, was vollkommen überflüssig war, da ersteres in der Depesche gestanden hatte und letzteres sich denken ließ. »Leider bekam ich kein Kennwort übermittelt. Herr Brilling muß es vergessen haben.«
Flehend sah Fandorin Pyshow an, von ihm hing jetzt seine Rettung ab - der aber schlug nur die kleinen Hände zusammen: »Was soll mir denn ein Kennwort. Schnickschnack, Kinderkram. Fehlte noch, daß ein Russe einen Russen nicht erkennt. Ich für meinen Teil muß nur in Ihre blanken Augen schauen« - bei diesen Worten rückte Pyshow dicht an ihn heran - »und sehe alles, was ich wissen muß: Ein Jüngling, rein und kühn, mit edlen Ambitionen, ein Patriot seines Vaterlands. Andere würden auch gar nicht genommen, hab ich recht?«
Fandorin runzelte die Stirn. Ihm schien, als machte der Gouvernementssekretär sich lustig über ihn, nähme ihn womöglich nicht für voll. Darum trug er das, was es zu sagen gab, knapp und in nüchternem Ton vor, bar jeder Emotionen. Hier zeigte sich, daß Pyshow nicht nur zum Salbadern, sondern auch zum Zuhören sichtlich Talent hatte: Er ließ sich auf der Bettkante nieder, faltete die kleinen Hände über dem Bauch, verengte die Schlitze seiner Augen noch mehr und erstarb in dieser Haltung - mit anderen Worten, er wurde ganz Ohr. Kein einziges Mal unterbrach er den Sprechenden, gab keinen Laut von sich. Nur manchmal, an den Schlüsselstellen des Berichtes, schienen Funken unter den geschlossenen Wimpern hervorzusprühen.