Seine Hypothese bezüglich der Briefe unterschlug Fan- dorin - die hob er sich für Brilling auf. Zuletzt sagte er: »Sie sehen, vor Ihnen steht ein Mörder wider Willen und auf der Flucht. Ich muß schleunigst auf das Festland hinüber, nach Moskau. Iwan Brilling erwartet mich.«
Pyshow schürzte die Lippen, lauerte, ob noch etwas kam, bevor er leise fragte: »Und was ist mit dem Portefeuillchen? Wollen wir es mit der Diplomatenpost expedieren? So wäre es gewiß am vernünftigsten. Der Teufel will es, und Sie werden gefaßt . Diese Herren scheinen keinen Spaß zu verstehen, bestimmt werden Sie auch in Europa gesucht. Was den Kanal betrifft, mein Engel, da bringe ich Sie natürlich heil und sicher hinüber, das ist ein Kinderspiel. Sofern Sie ein schäbiges Fischerboot nicht verschmähen, können Sie mit
Gottes Hilfe schon morgen hinübergondeln. Im Segel der Windsbraut.«
Was will er nur immer mit seinem Wind? dachte Fandorin gereizt; er hatte, offen gestanden, herzlich wenig Lust, sich von dem Portefeuille zu trennen, das in seine Hände zu bekommen ihn so viel gekostet hatte. Pyshow, der das Zaudern seines Gegenübers nicht zu bemerken schien, fuhr fort: »Ich stecke die Nase nicht gern in Dinge, die mich nichts angehen. Da bin ich diskret und bescheiden. Und daß Sie mit manchem hinter dem Berg halten, sehe ich. Recht getan, mein Apfelbäckchen, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold! Iwan Fran- zewitsch Brilling ist ein hohes Tier. Ein stolzer Adler, ließe sich sagen, inmitten von Drosseln, die, wenn’s drauf ankommt, den Schnabel nicht halten können. Also, wie ist es?«
»Wie ist was?«
»Na, mit dem Portefeuille? Ich würde es allseits mit Siegellack balsamieren und einem aufgeweckten Kurier in die Hand geben, ruck, zuck ist der damit in Moskau, wie die berühmte fliegende Troika. Und ein chiffriertes Telegramm- chen schickte ich obendrein: Nehmt in Empfang die edle Göttergabe.«
Beim Allmächtigen: Nicht um den Ruhm ging es Erast Fandorin, um Orden und Beförderungen schon gar nicht. Um der Sache willen hätte er Pyshow das Portefeuille liebend gern überlassen, per Kurier war es sicherer, keine Frage. Doch hatte ihm seine Phantasie schon so viele Male das Bild der triumphalen Rückkehr zum Chef vorgegaukelt, die effektvolle Aushändigung der kostbaren Mappe nebst fesselnder Erzählung der abenteuerlichen Umstände ihres Erlangens ... Sollte aus alledem nichts werden?
Das sah Fandorin nicht ein. Dazu fehlte es ihm an Größe. Und er sagte in entschlossenem Ton: »Das Portefeuille bleibt an sicherem Ort verwahrt. Ich überbringe es selbst. Ich stehe mit meinem Kopf dafür ein. Nehmen Sie es mir nicht krumm, Porfinus Martynowitsch.«
»Schön, schön«, lenkte Pyshow ein, »ganz wie Sie wollen. Dann kann ich um so ruhiger schlafen. Was sollen mir fremde Geheimnisse, ich hab an meinen eigenen genug zu tragen. Ein sicherer Ort ist ein sicherer Ort.« Er erhob sich, sein Blick huschte über die kahlen Zimmerwände. »Dann legen Sie sich einstweilen noch ein bißchen aufs Ohr, mein Freund. Die Jugend braucht ihren Schlaf. Ich alter Knilch kann sowieso nicht mehr schlafen, werde mich also einstweilen um das Boot kümmern. Morgen, was sag ich, heute, noch vor Sonnenaufgang bin ich wieder bei Ihnen, geleite Sie zum Kai, Küßchen zum Abschied und drei Kreuze. Derweil ich armer Waisenknabe mein Brot fern der Heimat knabbere. Tja. Selbst der Hund von Afanassi geht in der Fremde ungern Gassi.«
An dieser Stelle merkte Pyshow wohl selbst, daß er gar zu viel Sirup an seine Rede goß, reuig hob er die Arme.
»Pardon, ich verplaudere mich. Man schmachtet in der Fremde nach der lebendigen russischen Rede und legt sich so allerlei Schlenkerchen zu. Unsere Klügler an der Botschaft ziehen es vor, französisch zu parlieren, man hat keinen, dem man sein russisches Herz ausschütten kann.«
Draußen vor dem Fenster krachte es bedenklich, es hatte wohl auch schon zu regnen begonnen. Pyshow wurde unruhig, rüstete zum Aufbruch.
»Ich muß. Ojojoi, von ferne dräuen Ungewitter ...«
In der Tür drehte er sich noch einmal um, ließ einen letzten, zärtlichen Blick über Fandorin gehen und verschwand, nicht ohne eine tiefe Verbeugung, in der Finsternis des Korridors.
Fandorin verriegelte die Tür und zog fröstelnd die Schultern hoch. In diesem Moment krachte ein Donnerschlag, man konnte meinen, direkt auf das Dach des »Ferry Road« herunter.
Dunkel und grausig ist die kärgliche Kammer, deren einziges Fenster auf den kahlen, gepflasterten Innenhof geht, wo kein Grashalm wächst. Dort draußen ist es naß, dort pfeifen Regen und Wind, doch zwischen den Wolkenfetzen am schwarzgrauen Himmel treibt der Mond. Ein gelber Strahl dringt durch den Spalt zwischen den Vorhängen herein in die Höhle, fährt mitten hindurch bis zum Bett, wo Fandorin, von einem Alptraum geplagt, in kaltem Schweiß sich wälzt. Vollständig angezogen liegt er da - Schuhe an den Füßen, Waffen zur Hand -, nur der Revolver lagert noch unter dem Kopfkissen.
Sein vom Mord bedrücktes Gewissen beschert dem armen Fandorin ein gräßliches Traumbild. Die tote Amalia beugt sich über sein Bett. Ihre Augen sind halb geschlossen, ein Tröpfchen Blut rinnt unter den Wimpern hervor, sie hält eine schwarze Rose in der bleichen Hand.
»Was hab ich dir getan?« beklagt sich die Tote bei ihm. »Ich war jung und schön, ich war unglücklich und einsam. Man hat mich in ein Netz gelockt, man hat mich betrogen und verführt. Der einzige, den ich liebte, hat mich verraten. Du hast eine schreckliche Sünde begangen, Erast, du hast die Schönheit getötet, dabei ist sie, die Schönheit, ein Wunder des Herrn. Du hast das Wunder des Herrn mit Füßen getreten. Warum nur, wozu?«
Der blutige Tropfen rinnt von ihrer Wange, fällt auf Fan- dorins Stirn, die Kälte läßt ihn erschauern, er reißt die Augen auf. Sieht, daß keine Amalia da ist, gottlob. Ein Traum, nichts als ein böser Traum. Doch da! Schon wieder tropft es eiskalt auf seine Stirn.
Was ist das? dachte Fandorin, der von dem Schreck nun endgültig wach war, das Heulen des Windes hörte, das Rauschen des Regens, das Donnergrollen. Was tropfte da? Nichts Weltbewegendes. Regenwasser von der Decke. Beruhige dich, dummes Herz, sei endlich still.
Da aber war das Flüstern wieder! Leise, doch vernehmlich flüsterte es hinter der Tür: »Warum? Wozu?«
Und gleich noch einmaclass="underline" »Warum? Wozu?«
Es ist das schuldbeladene Gewissen! sagte sich Fandorin. Es verursacht Halluzinationen. Von der widerwärtigen Angst, die an ihm klebte und durch alle Poren in sein Inneres drang, vermochte diese wohlweisliche Erklärung ihn allerdings nicht zu befreien.
Eine Weile schien alles still zu sein. Wetterleuchten flakkerte über die nackten grauen Wände, dann war es wieder dunkel.
Kaum eine Minute später klopfte es leise an das Fenster. Tock-tock. Und noch einmaclass="underline" Tock-tock-tock.
Ganz ruhig! Das ist der Wind. Der Baum. Äste stoßen gegen die Scheibe. Das gibt es.
Tock-tock. Tock-tock-tock.
Der Baum? Was für ein Baum denn? Mit einem Ruck setzte Fandorin sich auf. Draußen auf dem Hof stand kein Baum, der Hof war kahl. Herrgott, was war das?
Der gelbe Spalt zwischen den Vorhängen wurde fahl und erlosch - wahrscheinlich war der Mond hinter Wolken verschwunden. Gleich darauf sah er ein Wackeln. Etwas Dunkles, Greuliches, Unbegreifliches bewegte sich.
Er mußte etwas tun, egal was. Nur nicht herumliegen und spüren, wie sich die Haarwurzeln sträuben. Nur nicht den Verstand verlieren.
Fandorin erhob sich, ging auf steifen Beinen zum Fenster hinüber, den Blick unverwandt auf jenes dunkle Etwas gerichtet. In dem Moment, da er die Gardinen beiseite schob, wurde der Himmel von einem Blitz erhellt - und Fandorin sah sich einem totenblassen Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen gegenüber, das unmittelbar hinter der Scheibe hing. Eine Hand leuchtete auf - in einem Licht, das nicht von dieser Welt war. Mit gespreizten Fingern rutschte sie langsam die Scheibe entlang.