Fandorins Reaktion war dumm, kindisch. Er heulte auf, prallte zurück und stürzte zum Bett, warf sich, den Kopf unter den Händen vergraben, darauf nieder. Aufwachen! Bloß schnell aufwachen! Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme .
Das Klopfen hörte auf. Er riß das Gesicht vom Kissen, schielte ängstlich zum Fenster, wo nichts Furchterregendes mehr zu sehen war - Nacht, Regen, anhaltendes Wetterleuchten. Es waren Sinnestäuschungen gewesen. Ganz bestimmt Sinnestäuschungen.
Glücklicherweise entsann sich Fandorin nun der Regeln aus dem Brevier des indischen Brahmanen Chandra Johnson, die das richtige Atmen und das richtige Leben lehrten. Wie hatte es doch geheißen in dem weisen Buch:
Richtiges Atmen ist die Grundlage richtigen Lebens. Es stützt dich in schweren Minuten des Daseins, es verschafft dir Besinnung, Erleuchtung und Erlösung. Hast du Prana, die Essenz des Lebens, eingeatmet, so laß dir mit dem Ausatmen Zeit, bewahre sie in deinen Lungen. Je tiefer und gemessener dein Atem, um so größer wird deine Lebenskraft sein. Derjenige ist zur Erleuchtung gekommen, der Prana abends eingeatmet und his zum ersten Morgengrauen nicht wieder ausgeatmet hat.
Bis zur Erleuchtung war es für Erast Fandorin gewiß noch ein gutes Stück Weg, doch hatten ihn die allmorgendlichen Übungen immerhin schon so weit gebracht, daß er die Luft bis zu einhundert Sekunden anhalten konnte. Zu diesem zuverlässigen Mittel griff er auch jetzt. Er sog die Lungen voll Luft und verharrte so, »verwandelte sich in einen Baum, einen Stein, einen Halm«. Und es half - das Herz klopfte wieder etwas regelmäßiger, das Entsetzen verflüchtigte sich. Bei hundert atmete Fandorin geräuschvoll aus, befriedigt vom Sieg des Geistes über den Aberglauben.
Und da ertönte ein Laut, dazu angetan, Zähneklappern hervorzurufen. Jemand kratzte an der Tür.
»Laß mich ein!« wisperte eine Stimme. »Sieh mich doch an. Mir ist kalt. Laß mich ein!«
Was zuviel ist, ist zuviel, empörte sich Fandorin, und nahm seinen letzten Stolz zusammen. Ich gehe jetzt hin, öffne die Tür und wache auf. Oder - oder ich sehe, daß ich nicht träume.
In zwei Sätzen war er bei der Tür, schob den Riegel zurück und riß sie auf. Mehr gab sein Anfall von Entschlossenheit nicht her.
Auf der Schwelle stand Amalia. Sie trug noch dasselbe weiße Spitzengewand wie gestern, mit einem verschwommenen Blutfleck auf der Brust. Das Haar war vom Regen naß und zerzaust. Am furchtbarsten aber war ihr Gesicht: Es leuchtete in einem Licht, das nicht von dieser Welt war, die Augen zum Stillstand gekommen, erloschen. Jetzt rückte ihre weiße, funkensprühende Hand auf Fandorins Gesicht zu und berührte seine Wange - ganz wie beim letzten Mal. Doch ging von den Fingern eine solche Eiseskälte aus, daß der arme Fandorin zurückfuhr, dem Wahnsinn nah.
»Wo ist das Portefeuille?« fragte das Gespenst in pfeifendem Flüstern. »Wo ist mein Portefeuille? Die Seele habe ich dafür hingegeben.«
»Das kriegen Sie nicht!« brach es von Fandorins trockenen Lippen. Er fegte zum Sessel, in dessen Tiefen die gestohlene Mappe verborgen war, ließ sich auf das Polster fallen, versuchte den Sessel gar zu umklammern.
Das Gespenst trat zum Tisch. Es riß ein Streichholz an, entzündete die Kerze und rief, nun auf einmal in sonorem Ton: »Your turn now! He’s allyours!«
Zwei Männer kamen ins Zimmer gestürmt: der baumlange Morbid (sein Kopf reichte bis an den Türbalken) und ein kleiner, flinker.
Fandorin war vor Schrecken starr, er zuckte nicht einmal, als der Butler ihm das Messer an die Kehle setzte, während der andere ihn geschickt abtastete und die Deringer im Stiefelschaft fand.
Morbid befahl ihm auf englisch, auch den Revolver zu suchen; der Kleine machte seine Sache gut, fand das Versteck unter dem Kissen auf Anhieb.
Währenddessen stand Amalia am Fenster und rieb sich Gesicht und Hände mit dem Taschentuch ab.
»Seid ihr soweit?« fragte sie ungeduldig. »Dieses Phosphorzeug ist ja so ekelhaft. Und dabei war die ganze Maskerade für die Katz. Sein Grips reicht nicht aus, das Portefeuille ordentlich zu verstecken. John, sehen Sie im Sessel nach.«
Dabei blickte sie Fandorin gar nicht mehr an - als hätte er sich plötzlich in einen leblosen Gegenstand verwandelt.
Mit Leichtigkeit riß Morbid ihn aus dem Sessel hoch, während er die Klinge weiter an seine Kehle gedrückt hielt; der Kleine schob die Hand in das Polster und zog das blaue Portefeuille hervor.
»Geben Sie her!« Die Beshezkaja trat zum Tisch und prüfte den Inhalt. »Alles da. Er hat noch nichts weggeschickt. Na, Gott sei Dank. Franz, bringen Sie mir den Mantel, ich bin völlig durchfroren.«
»Ist das das Ende der Vorstellung?« fragte Fandorin, der die Fassung wiedergewann, mit kippender Stimme. »Bravo! Sie sind eine vortreffliche Aktrice. Daß meine Kugel ihr Ziel verfehlt hat, tröstet mich. Um so ein Talent wäre es doch jammerschade gewesen.«
»Und vergessen Sie den Knebel nicht!« wies Amalia den Butler an, warf sich den von Franz gebrachten Mantel über die Schultern und verließ das Zimmer, ohne den beschämten Fandorin noch eines Blickes zu würdigen.
Der flinke Kleine (er also war es, der das Hotel observiert hatte, nicht Surow) holte ein Knäuel dünnen Strick aus der Tasche und band seinem Gefangenen die Arme fest an den Körper. Dann drückte er ihm mit zwei Fingern die Nase zu; als Fandorin die Luft knapp wurde und er den Mund aufriß, bekam er eine Kautschukbirne hineingestopft.
»Ordnung muß sein«, sagte Franz mit leichtem deutschen Akzent; das Ergebnis seiner Arbeit schien ihn zu befriedigen. »Jetzt noch den Sack.«
Er sprang auf den Flur hinaus und war im nächsten Augenblick zurück. Das letzte, was Fandorin sah, bevor man ihm das grobe Sackleinen über Kopf und Schultern bis zu den Knien zog, war John Morbids ungerührte, absolut steinerne Physiognomie. Daß die Welt sich ihm zuletzt von dieser nicht eben bezaubernden Seite zeigte, war bedauerlich, die staubige Finsternis im Sack war jedoch noch ärger.
»Warte, ich will außen noch einen Strick darumbinden«, rief die Stimme von Franz. »Die Fahrt ist zwar nicht weit, aber so ist es sicherer.«
»Wie soll er denn da rauskommen?« entgegnete Morbids
Baß. »Er braucht nur zu zucken, und ich ramme ihm das Messer in den Wanst.«
»Trotzdem besser so!« flötete Franz und zog einen Strick um den Sack - so straff, daß Fandorin Mühe bekam zu atmen.
»Auf geht’s!« Der Butler stieß den Gefangenen vorwärts, und Fandorin tappte blind drauflos, ohne recht zu begreifen, warum sie ihm nicht gleich hier im Hotelzimmer den Garaus machten.
Zweimal stolperte er und wäre über die Schwelle des Hauses gestürzt, wenn Johns Pranken ihn nicht noch bei der Schulter gepackt hätten.
Es roch nach Regen. Pferde schnaubten.
»Wenn ihr beiden fertig seid, kommt ihr noch mal her und räumt auf«, ließ die Beshezkaja sich hören. »Wir fahren schon mal.«
»Keine Bange, Ma’am«, brummte der Butler. »Sie haben Ihre Arbeit getan, jetzt sind wir an der Reihe.«
Oh, wie gern hätte Fandorin Amalia noch ein gebührendes Wort mit auf den Weg gegeben, etwas ganz Besonderes, damit sie ihn nicht als feigen Tolpatsch im Gedächtnis behielte, sondern als Teufelskerl, heldenhaft gefallen im ungleichen Kampf gegen eine ganze Armee von Nihilisten. Der widerwärtige Knebel verwehrte ihm diese letzte Genugtuung.
Und damit nicht genug. Auf den Unglücksraben wartete eine weitere Erschütterung - auch wenn man hätte annehmen dürfen, daß ihn nach alledem nichts mehr erschüttern konnte.
»Amalia Kasimirowna, mein Herzchen«, drang ein samtener Tenor an Fandorins Ohr. Den kannte er. »Erlauben Sie einem alten Knilch wie mir, die Kutsche mit Ihnen zu teilen.
Es plaudert sich netter mit einem Dach überm Kopf, schauen Sie nur, wie ich triefe. Ihr Patrick könnte meine Droschke nehmen und hinter uns herfahren, Sie haben doch nichts dagegen, mein Täubchen?«