Unter den Planken des Piers herrschte pechschwarze Nacht. Plötzlich aber schob sich aus den finsteren Tiefen lautlos ein heller, runder Fleck. Darin gleich noch einer, kleiner und wiederum schwarz: Das war Titularrat Fandorins aufgerissener Rachen, der gierig die Hafenluft in sich einsog.
Es stank nach Fäulnis und Kerosin. Der zauberhafte Geruch des Lebens.
Währenddessen wurde oben auf dem Steg eine träge Unterhaltung geführt. Fandorin in seinem Versteck konnte jedes Wort hören. Früher hatte es ihm so manches Mal Tränen der Rührung in die Augen getrieben bei der Vorstellung, mit welchen Worten Freund und Feind seiner gedenken würden (»ein Held ist vor der Zeit von uns gegangen ...«), was für Reden gehalten werden würden am offenen Grab. Im Grunde war seine ganze Jugend über derlei Träumereien hingegangen. Wie groß nun die Entrüstung des jungen Mannes, da er die Bagatellen derer mit anhören mußte, die die Ehre hatten, seine Mörder zu sein! Kein Wort über den, der da eben in den schwarzen Fluten versunken war - ein Mensch mit Herz und Verstand, von edler Gesinnung und hehrem Streben!
»Ooh . Die Tour heute wird mir wohl wieder einen Rheumaanfall einbringen«, stöhnte Franz. »Wie mir diese Nässe an die Nieren geht! Was stehen wir eigentlich noch hier rum? Laß uns losfahren!«
»Noch nicht.«
»Hör mal, ich hab vor lauter Rennerei nicht mal zu Abend gegessen. Hoffentlich kriegen wir wenigstens was zu beißen, was meinst du? Oder denken die sich noch einen neuen Job für uns aus?«
»Darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Wir tun, was man uns sagt.«
»Wenigstens eine Scheibe Kalbsbraten möchte ich mir vorher zwischen die Kiemen schieben. Mir knurrt der Magen. Sag bloß, wir sollen unser Nest schon wieder aufgeben? Kaum hat man sich ein bißchen eingewöhnt . Wozu das Ganze? Die Sache ist doch ausgestanden.«
»Sie wird schon wissen, wozu. Wenn sie es befohlen hat, wird es richtig sein.«
»Ist ja wahr. Sie irrt sich niemals. Ihr zuliebe würde ich alles tun - nicht mal den eigenen Vater würde ich verschonen. Wenn ich einen hätte. Sie hat mehr für uns beide getan als jede Mutter.«
»Und ob. Es reicht jetzt, wir können.«
Fandorin wartete, bis die Schritte verhallt waren, und zählte sicherheitshalber noch bis dreihundert, ehe er auf das Ufer zusteuerte.
Mit großer Mühe, ein paarmal abrutschend, erklomm er die Uferbefestigung, die zwar nicht hoch, aber beinahe senkrecht war; hier sah er, daß der Morgen bereits graute. Der dem kalten Tod Entronnene zitterte heftig, ihm klapperten die Zähne, und zu alledem plagte ihn nun noch ein Schluckauf - er mußte etwas von dem schimmligen Flußwasser geschluckt haben. Nichtsdestoweniger fand Erast Fandorin das Leben wunderschön. Mit einem liebevollen Blick bedachte er das graue Flußpanorama (vom anderen Ufer grüßten ein paar Lichter herüber), freute sich am soliden Anblick des flachen Lagerhauses, billigte das gemessene Schaukeln der Schleppdampfer und Barkassen, die sich längs der Hafenmauer reihten. Ein friedliches Lächeln erleuchtete das nasse, von einem Teerstreifen quer über der Stirn gezeichnete Gesicht des von den Toten Auferstandenen. Fandorin reckte sich wohlig - und erstarrte in dieser absurden Pose, denn von der Ecke des Lagerhauses hatte sich eine gedrungene Silhouette gelöst, die schaukelnd näher kam.
»Ach ihr Ausgeburten, ach, ihr Galgenstricke!« ließ die Silhouette noch aus großer, jedoch schnell dahinschmelzender Entfernung ein hohes, jammerndes Stimmchen hören. »Auf keinen ist Verlaß, auf alles muß man selbst ein Auge haben. Was finget ihr an ohne euren Pyshow, sagt? Ihr wäret hilflos wie blinde Welpen, jawohl!«
Vom Zorn des Gerechten ergriffen, stürzte Fandorin auf ihn zu. Dieser Verräter schien sich einzubilden, daß sein satanisches Doppelspiel unbemerkt geblieben war.
Nun aber sah Fandorin etwas Metallisches in der Hand des Gouvernementssekretärs Pyshow blitzen, er blieb stehen, wich im nächsten Moment zurück.
»Das ist vernünftig, mein Täubchen!« rief Pyshow, dessen geschmeidiger, katzenhafter Gang Fandorin jetzt auffiel. »Ich wußte doch, daß Ihr ein besonnenes Bürschlein seid. Seht Ihr, was ich hier habe?« Er schwenkte sein metallenes Utensil, und Fandorin konnte erkennen, daß es sich um eine doppelläufige Pistole von ungewöhnlich großem Kaliber handelte. »Ein garstiges Ding! Die Ganoven hierzulande nennen es Smasher. Hier vorn, wenn Ihr einmal herzuschauen beliebt, kommen zwei Treibladungen hinein - von der Art, wie sie die Petersburger Konvention von achtundsechzig verbietet. Aber was kümmert das die Verbrecher, mein lieber Fandorin, Bösewichter der übelsten Sorte! Was geht die eine Konvention der Menschenfreundlichkeit an! Und so ein Sprengkügelchen, wenn es ins Weiche trifft, rupft alles in klitzekleine Fetzen. Fleisch und Knochen und Sehne - ein einziges Ragout. So daß Ihr Euch doch besser nicht von der Stelle rühren solltet, mein Bester, sonst drücke ich vor Schreck noch ab, solch eine Roheit wäre unverzeihlich, sie reute mich bis in alle Ewigkeit. Och, wie das wohl weh tun mag, wenn man so was im Bauch stecken hat oder irgendwo dort unten .«
Der Schluckauf kam wieder, nun nicht mehr von der Kälte, sondern von der Angst. Doch Fandorin war außer sich.
»Judas, verdammter!« brüllte er. »Hast dein Vaterland für dreißig Silberlinge verkauft!« Die tückische Pistolenmündung ließ ihn aufs neue zurückweichen.
»Wie schon der große Dershawin schrieb: Unstetigkeit ist der Sterblichen Los. Ihr kränkt mich ganz zu Unrecht, mein Lieber. Nicht bei dreißig Schekel bin ich schwach geworden, das Sümmchen war um einiges üppiger, und man hat es mir fein ordentlich aufs Schweizer Bankkonto überwiesen - fürs Altenteil. Ist doch besser, als hinter Schloß und Riegel zu verschimmeln. Aber wo seid Ihr denn jetzt hingeraten? Dummerchen! Wer soll Euer Gekläff hier hören? Rennt gegen die Mauer - ist doch kein ganz Schlauer, haha . Diese Mauer hat Hand und Fuß, mein Teuerster, das ist die Cheopspyramide. Da geht es nicht mit dem Kopf durch die Wand.«
Fandorin war bis an den äußersten Rand der Uferpromenade zurückgewichen und mußte stehenbleiben, fühlte den Fußknöchel gegen die flache Brüstung stoßen. Was diesem Pyshow zu gefallen schien.
»So ist es fein, so ist es ganz prima!« jubelte er und blieb, zehn Schritt von seinem Opfer entfernt, stehen. »Sonst hätte ich hinterher meine liebe Not gehabt, einen so gutgenährten Knaben zum Wasser zu schleifen. Keine Bange, mein Ru- binchen! Pyshow versteht sein Handwerk. Peng und fertig. Aus dem roten Lärvchen wird ein rotes Breichen. Nicht wiederzuerkennen, selbst wenn da einer was aus dem Wasser fischen sollte. Und die arme Seele fleucht zu den Engelchen im Himmel. War ja noch keine Zeit zu sündigen, so jung und zart, wie sie ist.«
Mit diesen Worten hob er die Waffe, kniff das linke Auge zusammen und lächelte genüßlich. Er beeilte sich nicht zu schießen, schien sich an dem Moment zu berauschen. Fan- dorins verzweifelter Blick ging das verwaiste, vom Morgengrauen schwach erhellte Ufer entlang. Nein, da war niemand. Dies war nun wirklich das Ende. Halt, beim Lagerhaus rührte sich jetzt etwas, doch hinzuschauen blieb keine Zeit mehr. Krachend fiel der Schuß, gewaltiger als jeder Donner vom Himmel. Fandorin wankte und fiel mit markerschütterndem Schrei rücklings in den Fluß, aus dem er erst Minuten zuvor mit soviel Mühe herausgefunden hatte.
ZWÖLFTES KAPITEL,
in welchem unser Held erfährt, daß er einen Glorienschein um den Kopf hat
Doch das Bewußtsein verließ den Erschossenen nicht, und merkwürdigerweise spürte er keinen Schmerz. Erast Fando- rin, mit den Fäusten auf das Wasser trommelnd, verstand die Welt nicht mehr. Was war das? Lebte er noch, oder war er tot? Und wenn tot - warum diese Nässe?
Jetzt tauchte Surows Kopf oberhalb der Uferbegrenzung auf, was Fandorin nicht wunderte: Erstens hätte ihn im Moment überhaupt schwerlich etwas verwundern können, und zweitens sollten im Jenseits (falls es das war) noch ganz andere Dinge möglich sein.