»Erasmus! Lebst du noch? Hab ich dich blessiert?« brüllte Surows Kopf hysterisch. »Gib mir deine Hand.«
Fandorin streckte die Rechte aus dem Wasser und wurde mit einem einzigen, kräftigen Ruck aufs Trockene gezerrt. Das erste, was er sah, als er wieder auf den Füßen stand, war Pyshows kleine Gestalt, mit dem Gesicht nach unten liegend, die Hand mit der schweren Waffe von sich gestreckt. Zwischen den fettigen, falben Haaren im Nacken schimmerte ein schwarzglänzendes Loch, aus dem es dunkel hervorrann.
»Bist du verletzt?« fragte Surow besorgt, während er den nassen Fandorin drehte und betastete. »Ich verstehe nicht, wie das geschehen kann. Une revolution dans la balistique. Eigentlich ganz unmöglich.«
»Surow, sind Sie das?« röchelte Fandorin, dem allmählich schwante, daß er sich noch im Diesseits befand.
»Was heißt hier >Sie< - ich dachte, wir hätten Brüderschaft getrunken?«
»Aber wie . wieso denn?« Fandorin begann schon wieder zu schlottern. »Wieso wollen ausgerechnet Sie mich umlegen? Hat Ihnen Ihr Asasel eine Prämie dafür versprochen? Dann tun Sie es, schießen Sie endlich, verdammt noch mal! Ich hab Sie satt wie dicken Grützbrei!«
Letzteres war ihm unversehens herausgerutscht, kam wohl aus den Tiefen seiner Kinderstube. Und Fandorin wollte noch eins draufgeben, sich das Hemd auf der Brust aufreißen - hier bitteschön, schieß doch! -, aber Surow packte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn grob.
»Hör auf zu spinnen, Fandorin! Grützbrei? Was für ein Asasel? Dich muß ich wohl erst mal zu Verstand bringen.« Und er verabreichte dem geplagten Fandorin zwei schallende Ohrfeigen. »Ich bin es, Mann, Ippolit Surow. Kein Wunder, wenn dir nach so vielen Mißgeschicken das Hirn ein bißchen weich geworden ist. Komm her, stütz dich auf mich.« Er legte dem jungen Mann den Arm um die Schultern. »Ich bring dich jetzt erst mal ins Hotel. Dort vorn ist mein Pferd angebunden, und der da« - er stieß mit dem Fuß gegen Pyshows leblosen Körper - »hat noch eine Droschke stehen. Damit sind wir schnell wie der Blitz. Wenn du dich ein bißchen aufgewärmt hast und einen Grog intus, kannst du mir erklären, was ihr hier für einen Zirkus veranstaltet.«
Rabiat stieß Fandorin den Grafen von sich.
»Nein, mein Freund, ich denke, du hast mir was zu erklären! Wo kommst du überhaupt, hick, her? Wieso verfolgst du mich? Steckst du mit denen unter einer Decke?«
Surow zwirbelte verlegen seinen schwarzen Schnurrbart.
»Das läßt sich nicht in zwei Worten sagen.«
»Na und? Ich habe, hick, Zeit! Und vorher rühre ich mich nicht vom Fleck!«
»Also gut. Hör zu.«
Das Folgende hatte Ippolit Surow zu berichten.
»Meinst du, ich habe dir Amalias Adresse nur so aus Spaß gegeben? O nein, Brüderchen, da steckte Psychologie dahinter. Du hast mir gefallen, mußt du wissen - und wie! Du hast so etwas . Ein höheres Zeichen vielleicht, oder was weiß ich. Für solche wie dich hab ich ein Gespür. Es ist, als sähe ich um eure Köpfe einen Glorienschein, so ein zartes Leuchten. Ihr seid ein ganz besonderer Menschenschlag - wer den Nimbus hat, ist vom Schicksal ausersehen, ist gefeit vor aller Gefahr. Wozu ausersehen, weiß derjenige oft selber nicht. Jedenfalls, mit so einem duelliert man sich nicht, da zieht man den kürzeren. Mit so einem spielt man auch nicht Karten - man spielt sich um Kopf und Kragen, und wenn man noch so viele Kunststücke aus dem Ärmel zaubert. Als du mich beim Spiel abserviert hast und dann auch noch die Karten entscheiden lassen wolltest, wer von uns beiden sich die Kugel gibt, da hab ich den Glorienschein an dir entdeckt. Deinesgleichen trifft man nicht alle Tage. Bei uns im Bataillon, wie wir durch die Wüste Turkistans marschiert sind, gab es so einen Oberleutnant, der hieß Ulitsch. Der ist in jeden Hexenkessel marschiert und kam ungeschoren wieder raus, mit einem Lachen. Ob du’s glaubst oder nicht, einmal, vor Chiwa, hab ich mit eigenen Augen gesehen, wie die Garde des Khans eine volle Salve auf ihn abgefeuert hat. Kein Kratzer! Bis er eines Tages übergorenen Kumys getrunken hat - das war’s dann, da mußten wir den guten Ulitsch im Wüstensand verscharren. Aber wieso der liebe Gott in all den Schlachten so sorgsam die Hand über ihn gehalten hat, ist mir ein Rätsel. Und so einer bist du, Fandorin, das kannst du mir glauben. Ich hab dich liebgewonnen, und zwar in dem Augenblick, da du ohne langes Federlesen die Pistole angesetzt und abgedrückt hast. Nur weißt du, Bruder Fandorin, mit der Liebe ist das so eine Sache. Wer mir unterlegen ist, den kann ich nicht lieben, und ist mir einer über, dann beneide ich ihn wahnsinnig. Und dich habe ich beneidet. Beneidet um deinen Glorienschein, dein überirdisches Glück. Sieh dich doch an: Schon wieder bist du im Wasser gewesen, ohne dich naß zu machen. Na, sagen wir, fast, haha ... mit heiler Haut davongekommen. Und dabei siehst du ganz unscheinbar aus, das reinste Kälbchen!«
Bis hierhin hatte Fandorin interessiert zugehört und vor Behagen sogar ein wenig Farbe ins Gesicht bekommen, auch das Zittern schien fürs erste vergangen; bei dem Wort Kälbchen jedoch verfinsterte sich seine Miene, und er hickste zweimal erbost.
»Sei doch nicht beleidigt, ich meine es nicht böse«, sagte Surow und klopfte ihm auf die Schulter. »Jedenfalls hab ich damals gedacht: Den schickt mir der Himmel. Bei so einem beißt Amalia unter Garantie an. Die schaut nur einmal hin und beißt an. Womit ich der teuflischen Verlockung ein für allemal entronnen wäre. Sie hätte mich in Ruhe gelassen, nicht länger gequält, an der Kette gehalten wie einen Tanzbären auf dem Basar. Soll sie doch den Frischling in ihr Fegefeuer ziehen, hab ich gedacht und dir gleich einen Faden in die Hand gegeben, wohl wissend, daß auch du nicht locker lassen würdest . Zieh den Mantel über und nimm einen Schluck. Dich zerreißt es ja fast von dem Schluckauf.«
Während Fandorin zähneklappernd den großen Flachmann ansetzte, auf dessen Grund der Jamaika-Rum schwappte, warf Surow ihm seinen schicken schwarzen Mantel mit dem purpurnen Atlasfutter über die Schultern. Dann ging er geschäftig daran, Pyshows Leichnam zur Brüstung zu wälzen, darüber hinwegzuhieven und ins Wasser zu stoßen. Ein dumpfes Klatschen - und von dem unheiligen Gouvernementssekretär blieb nur die dunkle Pfütze auf dem Stein.
»Herr, schenke deinem Knecht . Soundso die ewige Ruhe«, frömmelte Surow.
»Py-hi-Pyshow!« Erast Fandorin hickste wieder; das Zähneklappern hatte der Rum ausgetrieben. »Porfirius Marty- nowitsch Pyshow.«
»Merk ich mir sowieso nicht.« Surow zuckte unbekümmert die Schultern. »Zum Teufel mit ihm. Kleiner Dreckskerl, allem Anschein nach. Einem wehrlosen Menschen mit der Pistole zu kommen - igitt. Er wollte dich umbringen, Erasmus, ist dir das überhaupt klar? Und daß ich dir das Leben gerettet habe?«
»Ja doch. Erzähl schon weiter.«
»Weiter ging es bergab. Ich hab dir Amalias Adresse gegeben, und schon am nächsten Tag hat mich die Schwermut gepackt - aber was für eine, Gott bewahre. Ich hab gesoffen, bin zu den Huren gefahren, hab an die fünfzig Tausender auf dem Spieltisch gelassen. Half alles nichts. Weder schlafen noch essen konnte ich. Trinken ging noch. Und immerzu hab ich euch beide vor mir gesehen, wie ihr euch herzt und kost und Witze über mich reißt. Oder gar nicht mehr an mich denkt, was noch schlimmer war. Zehn Tage hab ich so herumgehangen und gemerkt: Gleich schnappe ich über. Kannst du dich an Jean erinnern, meinen Lakaien? Der liegt im Krankenhaus. Er hat nur einmal den Kopf bei mir hereingesteckt, sein Mißfallen zu äußern, da hab ich ihm das Nasenbein gebrochen und zwei Rippen dazu. Eine Schande, Bruder! Ich war wie im Fieber. Am elften Tag raffte ich mich auf. Schluß jetzt, hab ich mir gesagt, ich fahre hin und bringe sie um, alle beide, anschließend steche ich mich selber ab. Schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Frag mich nicht, wie ich quer durch Europa gekommen bin, ich weiß es nicht. Ich hab gesoffen wie ein Wüstenkamel. Auf der Fahrt durch Deutschland muß ich irgendwie zwei Preußen aus dem Zug geschmissen haben, falls nicht, hab ich es nur geträumt. Erst in London bin ich wieder zur Besinnung gekommen. Und gleich zu dem Hotel. Keiner da - du nicht und sie nicht. Das Hotel war ein rechtes Loch, keines, wo Amalia zu logieren pflegt. Der Portier ein Ganove, spricht kein Wort Französisch, und alles, was ich auf englisch sagen kann, ist >a bottle of whisky< und >move your ass<, das hat mir mal ein Unterleutnant zur See beigebracht: Her mit dem Whisky, aber schnell. Ich hab den Portier, diese englische Morchel, nach Miss Olsen gefragt, und er murmelt nur was in seinen Bart, schüttelt die Rübe und zeigt mit dem Daumen über die Schulter, als wie: Die ist abgereist, wer weiß wohin. Daraufhin hab ich meine Pferde erst mal in deine Richtung laufen lassen. >Fandorin!<, sag ich, >Fandorin, move your ass!< Er guckt mich an mit runden Augen - nimm’s mir nicht übeclass="underline" Dein Name muß im Englischen irgendwie unanständig klingen. Jedenfalls war die Verständigung mit dem Heini zum Scheitern verurteilt. Was sollte ich anderes machen, als mich in dem Wanzenloch einzuquartieren. Jeden Tag das gleiche Spiel. Morgens zum Portier mit der Frage: Fandorin? Er verbeugt sich und antwortet: >Morning, Sir<. Ist noch nicht eingetroffen, hieß das wohl. Und ich bin in die Kneipe gegenüber gegangen, wo mein Beobachtungsposten war. Trauriges Lokal, nichts als trübselige Visagen um einen herum, aber mit >a bottle of whisky< und >move your ass< ging es einigermaßen. Der Kneipier hat mich erst nicht aus dem Auge gelassen, aber dann hat er sich an mich gewöhnt, begrüßt mich jetzt wie einen Verwandten. Ich bin eine Belebung seines Geschäfts: Ständig kommen sie und wollen sehen, wie ich mir einen Harten nach dem anderen hinter die Binde gieße. Näher zu treten haben sie Angst, glotzen immer bloß von weitem. Ich hab ein paar Wörter dazugelernt: Dshinn - das ist Wacholder, Ramm - Rum! - und Brenn-die, was ein mieser Kognak ist. Ich hätte wohl noch bis zum Delirium dre- mens auf meinem Beobachtungsposten gesessen, aber am vierten Tag, Allah sei Dank, bist du aufgetaucht. Wie der letzte Stutzer kamst du vorgefahren, in lackierter Kutsche, mit Schnauzer. Schade übrigens, daß du den abrasiert hast, damit sahst du properer aus. Hoi! war mein erster Gedanke, da spreizt das Hähnchen seine Federn! Und: Nun paß mal auf, deine Miss Olsen kannst du in den Wind schreiben. Aber du hast den Typen am Tresen ganz anders zum Singen gebracht, so daß ich mir dachte, ich bleibe besser noch in meinem Versteck hocken und warte, ob du mich auf ihre Fährte führst, dann sehen wir, welche Karte sticht. Ich bin dir auf der Straße nachgeschlichen wie ein Schnüffler von der Kriminalpolizei. Puh! Mein Verstand hatte sich völlig abgemeldet. Dann sah ich dich mit dem Kutscher verhandeln und traf Vorkehrungen - holte das Pferd aus dem Stall, umwickelte die Hufe, damit sie nicht so knallten, mit Handtüchern aus dem Hotel. Das tun die Tschetschenen, wenn sie zur Attacke rüsten. Nicht gerade mit Hotelhandtüchern, aber mit irgendwelchen Lappen, du weißt schon.«