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Erast Fandorin erinnerte sich an die vorgestrige Nacht. Vor lauter Angst, daß Morbid ihm entwischen könnte, hatte er sich kein einziges Mal umgedreht, dabei waren ihm, wie sich nun zeigte, gleich zwei auf den Fersen gewesen.

»Als du bei ihr durchs Fenster geklettert bist, hab ich mich gefühlt wie ein Vulkan kurz vorm Ausbruch. Ich hab mir die Hand blutig gebissen, da, schau her!«

Er hielt Fandorin seinen kräftigen, wohlgeformten Handteller unter die Nase, und tatsächlich sah man zwischen Daumen und Zeigefinger die Bißspur, einen idealen Halbmond.

»So, hab ich mir gesagt, das ist also jetzt der Ort, wo drei Seelen auf einmal abtreten: eine in den Himmel (da dachte ich an dich) und zwei auf geradem Weg in die Hölle. Ein Weilchen hast du dich vor dem Fenster rumgedrückt und deinen Mut zusammengenommen, bevor du eingestiegen bist. Eine Hoffnung hatte ich noch: daß sie dich vielleicht rausschmeißt. Sie läßt sich nämlich ungern überfallen, gibt lieber selbst die Kommandos. Ich stehe also da unten mit weichen Knien und warte. Plötzlich geht das Licht aus, ein Schuß - und sie schreit! Ach, denke ich, jetzt hat er sie erschossen, der Hitzkopf. Ausgetanzt und ausgetollt! Und plötzlich ist mir so weh ums Herz geworden, Bruder, so als wäre ich mutterseelenallein auf der Welt und wüßte nicht mehr, wozu . Daß es eines Tages böse für sie enden würde, war mir klar, ich hatte ja selber vorgehabt, sie umzubringen, und trotzdem . Du hast mich im Vorbeirennen gesehen, nicht wahr? Ich stand wie gelähmt, wie im Nebel, kam nicht auf die Idee, dich aufzuhalten. Was dann losging, spottet jeder Beschreibung, und es wurde immer verrückter. Zuerst einmal stellte sich raus, daß Amalia gar nicht tot war. Du mußt im Dunkeln danebengeschossen haben. Sie hat gekreischt und ihre Diener runtergeputzt, daß die Wände wackelten. Dann erteilte sie irgendwelche Befehle auf englisch, und ihre gehorsamen Diener sind gerannt, kreuz und quer durch den Garten geflitzt. Ich hab mich im Gebüsch verkrochen. Mit nichts als Chanvari im Kopf. Hab mich gefühlt wie der letzte Tölpel beim Preference-Spielen: Die anderen machen ihre Stiche, und ich bleib auf dem Abgeworfenen sitzen. So nicht, dachte ich, nicht mit mir! Zum Deppen hat sich Surow noch nie machen lassen. Im Garten dort steht so ein zugenageltes Portierhäuschen, wie zwei Hundehütten übereinander. Ich hab ein Brett abgerissen und mich heimlich dort reingesetzt. Stielaugen machen, Ohren spitzen, das kannte ich ja schon. Satyr, der Psyche nachstellend. Und was haben die für ein Tamtam veranstaltet! Wie ein Korpsstab vor der Generalinspektion. Die Diener sind in einem fort raus und rein gerannt, Amalia hörte nicht auf herumzuschreien, Postboten brachten Telegramme. Ich hab mich gefragt, was mein lieber Erasmus bloß angestellt hat. Dieser brave Junge! Was hast du ihr getan, he? Hast du die Lilie der Keuschheit auf ihrer Schulter erblickt? Nein, sie hat keine Lilie, weder auf der Schulter, noch anderswo. Was also? Komm schon, mir kannst du es sagen!«

Fandorin winkte ungeduldig ab - erzähl endlich weiter, mir steht nicht der Sinn nach derlei Unfug, sollte das heißen.

»Jedenfalls hast du in einen Ameisenhaufen gestochen. Dein Bekannter, Gott hab ihn selig« - Surow wies in Richtung des Flusses, wo Porfirius Pyshow seine letzte Ruhestätte gefunden hatte -, »kam im Laufe des Tages gleich zweimal angefahren. Das zweite Mal gegen Abend ...«

»Was denn, hast du etwa die ganze Nacht und den ganzen Tag in der Bude gehockt?« staunte Fandorin. »Ohne Essen und Trinken?«

»Ach, ohne Essen halte ich es aus, solange genug zu trinken da ist. Und dafür war gesorgt.« Er klopfte auf den Flachmann in seiner Tasche. »Natürlich mußte ich eine Rationierung einführen. Pro Stunde zwei Schluck. War nicht einfach. Aber gegen das, was ich im Kokandkrieg, bei der Belagerung von Machram aushalten mußte, ist das gar nichts, davon erzähl ich dir später. Ein paarmal hab ich mich davongeschlichen, um mir die Füße zu vertreten und mein Pferd zu besuchen. Es war am Zaun vom Nachbarn angebunden. Gras hab ich ihm gerupft, ein bißchen mit ihm geredet, daß es sich nicht so langweilt, und dann ging’s zurück, auf Posten. Bei uns daheim hätten sie so ein herrenloses Pferd im Handumdrehen zur Seite geschafft, aber hier sind die Leute zu langsam im Kopf, die kommen nicht auf den Gedanken. An dem Abend hab ich meinen Falben ja dann noch gut gebrauchen können. Als Gott-hab-ihn-selig (Surow nickte wieder zur Flußseite hin) zum zweiten Mal vorgefahren kam, da sammelten sich deine Häscher zum Feldzug. Ein Bild für die Götter: Vornweg wie weiland Bonaparte Amalia in ihrer Kutsche, zwei kräftige Burschen auf dem Bock. Ihr nach in der Droschke Gott-hab-ihn-selig. Dann die offene Kalesche mit den beiden Lakaien. Und auf Abstand, im Schutz der dunklen Nacht, ich auf meinem Falben - gerade wie Denis Dawydow, der dichtende Husar. Vier durch das Dunkel geisternde Handtücher!«