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»Tatsächlich, nur eine Patrone? Da hat der Arme ja wirklich Pech gehabt!« sagte Fandorin voller Mitgefühl mit dem Toten, wobei ihm die Ledermappe keine Ruhe ließ.

»Wo wohnt er denn? Ich meine, wo hat er .«

»Achtzimmerwohnung in einem neuen Haus an der Osto- shenka, hochvornehm.« Bereitwillig gab Iwan Prokofje- witsch seine Eindrücke preis. »Der Vater hat ihm ein Haus im noblen Samoskworetschje-Viertel hinterlassen, ein vollständiges Anwesen samt Gesinde, aber dort, unter Kaufleuten, hat er nicht wohnen wollen.«

»Und in der Wohnung hat sich keine Ledermappe angefunden?«

Der Gehilfe tat erstaunt. »Hätten wir Ihrer Meinung nach eine Haussuchung veranstalten sollen? Ich sage Ihnen, das ist eine Wohnung, wo man die Polizeidiener nicht gern herumspazieren läßt, sie könnten leicht schwach werden. Und wozu soll’s gut sein? Jegor Nikiforitsch, der Kriminalkommissar aus der Bezirksprokuratur, hat dem Kammerdiener von dem Toten eine Viertelstunde gegeben, seine Siebensachen zusammenzupacken, und zwar unter Aufsicht des Wachtmeisters, damit er nichts einsteckt, was seinem Herrn gehört hat - danach mußte ich die Tür versiegeln. Bis die Erben verkündet sind.«

»Und wer sind die?« interessierte sich Fandorin.

»Das ist der Haken. Der Kammerdiener meint, Kokorin habe keine Geschwister. Nur irgendwelche Großcousins, die er nie über die Schwelle gelassen hat . Fragt sich also, wem solch hübsche Sümmchen zufallen sollen.« Iwan Prokofje- witsch seufzte neidvoll. »Das wagt man sich kaum vorzustellen . Na, soll nicht unsere Sorge sein. Der Advokat oder die Testamentsvollstrecker werden es demnächst verkünden. Der Mann ist ja noch keine vierundzwanzig Stunden tot, und die Leiche liegt bei uns auf Eis. Vielleicht, daß Jegor Nikifo- ritsch den Fall morgen abschließt, vorher kommt die Sache nicht in Gang.«

»Trotzdem komisch«, bemerkte der junge Schriftführer mit gerunzelter Stirn. »Wenn einer in der Stunde seines Todes ausdrücklich eine bestimmte Mappe erwähnt, dann muß das seinen Sinn haben. Und das mit den >miesen Schurken< ist auch nicht zu begreifen. Wenn in der Mappe nun etwas Wichtiges drinsteckt? Tun Sie, was Ihnen beliebt, doch ich an Ihrer Stelle würde in der Wohnung unbedingt noch mal nachschauen. Mir scheint, der Brief ist nur um der Erwähnung dieser Mappe willen geschrieben worden. Da steckt ein Geheimnis dahinter, das könnte ich schwören.«

Fandorin errötete - ob »Geheimnis« womöglich nach Dummejungenphantasie klang? -, doch Iwan Prokofjewitsch schien nichts Komisches daran zu finden.

»Stimmt, wenigstens im Arbeitszimmer hätte man die Papiere sichten sollen«, gab er zu. »Jegor Nikiforitsch hat es eben immer ein bißchen eilig. Er hat eine achtköpfige Familie zu versorgen, da schaut er drauf, daß er schnell nach Hause kommt. Ein alter Mann, noch ein Jahr bis zur Pension, was will man da verlangen ... Aber vielleicht haben Sie ja Lust hinzufahren, Herr Fandorin? Wir könnten gemeinsam nachschauen. Ich hänge hinterher ein neues Siegel an, kein Problem. Jegor Nikiforitsch wird darüber hinwegsehen. Der ist froh, daß man ihn nicht noch mal behelligt. Ich sage ihm, da war noch eine Anfrage vom Kriminalamt, wäre das recht?«

Fandorin vermutete, daß der dürre Reviergehilfe nur darauf aus war, die »hochvornehme« Wohnung ein weiteres Mal in Augenschein zu nehmen, und mit dem »Anhängen« eines neuen Siegels schien es auch nicht getan - doch die Versuchung war groß. Die Sache roch gar zu sehr nach Geheimnis.

Die Wohnungseinrichtung des seligen Pjotr Kokorin (Beletage eines vornehmen Geschäftshauses nahe des Pretschi- stenskije-Tors) vermochte Fandorin nicht sonderlich zu beeindrucken - zu jenen schnell dahingegangenen Zeiten, da das Säckel seines Herrn Papa gut gefüllt war, hatte er in kaum weniger prunkvollen Gemächern gehaust. Darum hielt sich der Kollegienregistrator nicht lange in dem Marmorfoyer auf, wo allein der venezianische Spiegel gute zwei Meter hoch und der Stuck an der Decke vergoldet war, sondern lief stracks bis ins Wohnzimmer: auch dieses geräumig, sechs Fenster breit, im ultramodernen russischen Stil - bemalte Truhen, Eichenschnitzwerk an den Wänden und ein stattlicher Kachelofen.

»Bonfortionös hat man gewohnt, wie gesagt!« tat Fan- dorins Begleiter im Flüsterton kund und hauchte ihm einen Seufzer in den Nacken.

Fandorin wiederum glich jetzt einem einjährigen Setter, der, zum ersten Mal in den Wald gelassen, das Wild so heftig in den Wind bekommt, daß er außer Rand und Band gerät. Den Kopf in einem fort hin- und herdrehend, kombinierte er: »Dort die Tür - das ist das Arbeitszimmer?«

»Sehr richtig.«

»Gehen wir nach da!«

Die lederne Mappe zu finden war ein leichtes - sie lag auf dem massiven Schreibtisch, genau zwischen der malachite- nen Tintenfaßgarnitur und dem muschelförmigen, perlmuttbesetzten Aschenbecher. Doch bevor Fandorins ungeduldige Hände das knarrende braune Leder berührt hatten, fiel sein Blick auf eine Porträtphotographie, die im silbernen Rahmen an sichtbarster Stelle auf dem Schreibtisch stand. Das Gesicht auf der Photographie war so ausdrucksvoll, daß Fandorin erst einmal die Mappe vergaß. Eine Kleopatra schaute ihn an: halb abgewandt, mit üppigem Haar, großen mattschwarzen Augen, stolz gebogenem Schwanenhals und launischer Mundpartie, die eine Spur Erbarmungslosigkeit hervorzukehren schien. Am meisten aber faszinierte den Kollegienregistrator der Ausdruck herrischer Gelassenheit und Selbstsicherheit auf diesem Mädchengesicht. (Aus irgendeinem Grunde wollte Fandorin unbedingt, daß es ein Mädchen war, keine Dame.)

»Ist die aber hübsch!« meinte Iwan Prokofjewitsch, der schon wieder neben ihm stand, und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wer ist sie denn? Wenn Sie erlauben .«

Ohne das geringste Zögern beging er den Frevel, das zauberhafte Antlitz aus dem Rahmen zu ziehen und auf die Rückseite zu schauen. Mit schräger, schwungvoller Schrift stand dort geschrieben:

Für Pjotr K.

Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.

Verliebter, leugne Deine Liebe nicht!

A.B.

»Sie sieht in ihm den Apostel Petrus und sich selber anscheinend als Jesus! Was die sich einbildet!« fauchte des Reviervorstehers Gehilfe. »Er wird doch nicht am Ende dieses Luders wegen Hand an sich gelegt haben, was? Ach, da haben wir ja auch das Mäppchen. Hat sich der Weg doch gelohnt.«

Iwan Prokofjewitsch klappte den Lederdeckel auf und zog ein einzelnes Blatt des hellblauen Papiers hervor, das Fandorin bereits kannte - es war am unteren Rand mit einem notariellen Stempel und mehreren Unterschriften versehen.

»Hervorragend!« Der Gehilfe nickte zufrieden. »Das Testament hätten wir also. Ach herrje. Ist ja interessant.«

Das Dokument zu überfliegen, benötigte er kaum eine Minute, die Fandorin jedoch unendlich lang vorkam; dem Polizeidiener über die Schulter zu schauen schien ihm unter seiner Würde.

»Heiliger Bimbam! Mit schönem Gruß an die Cousins und Cousinen!« jauchzte Iwan Prokofjewitsch nun mit überraschender Gehässigkeit. »Da hat der liebe Kokorin ihnen eine Nase gedreht. Das ist die unfeine russische Art! Noch dazu reichlich unpatriotisch. Das mit den Schurken läßt sich nun auch verstehen.«

Vor Ungeduld vergaß Fandorin jeden Anstand und Respekt, er riß dem Dienstälteren das Blatt aus der Hand und las:

Testament

Ich, Endesunterzeichneter Pjotr Alexandrowitsch Kokorin, verfüge bei vollem Verstand und voller Geistesgegenwart sowie im Beisein nachstehender Zeugen bezüglich des mir zu eigenen Vermögens das folgende: