Surow kicherte, während er einen kurzen Blick auf den roten Streifen längs des Flusses warf, der die aufgehende Sonne ankündigte.
»Sie fuhren in ein Hinterfinsterhausen, schlimmer als die Ligowka in Petersburg: heruntergekommene Häuser, Lagerschuppen, Dreck. Hier wechselte Gott-hab-ihn-selig in Amalias Kutsche - wohl um Kriegsrat zu halten. Ich band mein Pferd in irgendeinem Torweg an und harrte der Dinge. Gott-hab-ihn-selig betrat ein Haus mit Aushängeschild, blieb dort eine halbe Stunde. Währenddessen wurde das Klima ungemütlich. Ein Donnerwetter brach vom Himmel, es schüttete wie aus Kannen. Ich wurde pitschnaß, harrte aber aus - die Neugier! Gott-hab-ihn-selig erschien wieder, kroch zu Amalia in die Kutsche. Anscheinend ein weiteres Konzilium. Derweil regnete es mir in den Kragen, und der Flachmann war fast leer. Ich überlegte schon, ob ich ihnen einen Auftritt inszenieren sollte, eine Christuserscheinung, um die ganze Bande in die Flucht zu schlagen und Amalia zur Rechenschaft zu ziehen - da ging plötzlich der Kutschenschlag auf, und ich sah etwas, das nie wieder sehen zu müssen ich den lieben Gott von Herzen bitte.«
»Ein Gespenst«, vermutete Fandorin. »Ein leuchtendes?«
»Genau. Brrrr! Ich kriegte eine Gänsehaut. Daß es Ama- lia war, konnte ich nicht gleich glauben. Es wurde also wieder interessant. Erst ging sie in dasselbe Haus, kam zurück, lief auf den benachbarten Hof, dann verschwand sie noch mal hinter besagter Tür. Gefolgt von den Dienern. Kurze Zeit später geleiteten sie eine Art Sack auf Füßen aus dem Haus. Daß du es warst, den sie da geschnappt hatten, wurde mir erst später klar, vorläufig wäre mir das nicht im Traum eingefallen. Jetzt teilten sich die Truppen: Amalia und Gott- hab-ihn-selig nahmen die Kutsche, die Droschke fuhr leer hinterher, und die Kalesche mit den Dienern und dem Sack, also mit dir, rollte in die Gegenrichtung davon. Von mir aus, dachte ich, was geht mich der Sack an. Ich mußte Amalia retten, aus der schmutzigen Geschichte herausholen, in die sie sich eingelassen hatte. Ich also der Kutsche und der Droschke hinterher, auf leisen Hufen, tapp-tapp, tapp-tapp. Weit waren sie nicht gekommen, da hielten sie schon wieder. Ich saß ab, nahm die Stute bei der Kandare, damit sie bloß nicht wieherte. Gott-hab-ihn-selig kam aus der Kutsche gekrochen und sagte (die Nacht war so still, daß man es gut hören konnte): >Nein, Herzchen, da schau ich lieber noch mal nach. Ich hab so ein dummes Gefühl. Dieser Knabe ist doch gar zu helle. Sollten Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.< Ich war natürlich erst mal in Rage, von wegen Herzchen - diese vertrocknete Pfefferschote! Und dann ging mir ein Licht auf. War da etwa von dem lieben Erasmus die Rede?«
Surow wiegte stolz den Kopf, sichtlich zufrieden mit seiner Findigkeit.
»Der Rest ist schnell erzählt. Der Droschkenkutscher ist auf den Bock von Amalias Kutsche gewechselt. Ich bin hinter Gott-hab-ihn-selig her. Da, hinter der Ecke stand ich und wollte unbedingt rauskriegen, welche Suppe du ihm versalzen hast. Aber ihr habt zu leise gesprochen, es war rein gar nichts zu verstehen. Ich hatte nicht vorgehabt zu schießen, für einen guten Schuß war es sowieso viel zu dunkel, aber dann sah ich, daß er dich umlegen wollte - das sah ich ihm von hinten an. Dafür hab ich ein Auge, Bruder. Und was sagst du zu dem Schuß? Hat es sich nicht gelohnt, daß Surow mit Fünfkopekenstücken trainiert? Aus vierzig Schritt exakt auf den Scheitel, und das bei dem Licht!«
»Vierzig, na ja, wer weiß«, sagte Erast zerstreut, er war mit den Gedanken ganz woanders.
»Glaubst du mir nicht?« ereiferte sich Surow. »Dann zähl nach!« Er war schon dabei, die Strecke abzuschreiten (die Schritte vielleicht etwas knapp bemessend), Fandorin hielt ihn zurück.
»Und was hast du nun vor?«
»Was schon! Erst machen wir wieder einen ordentlichen Menschen aus dir, du klärst mich auf, was ihr hier eigentlich treibt, und nach dem Frühstück fahre ich zu Amalia. Ich schieße sie über den Haufen, die falsche Schlange, oder ich entführe sie. Du sag mir nur, ob ich dich als Verbündeten oder als Nebenbuhler anzusehen habe?«
»Tja, also, die Sache steht so«, begann Fandorin, die Stirn in Falten gelegt, und rieb sich müde die Augen. »Beistand benötige ich weiter keinen - Punkt eins. Erklären werde ich dir gar nichts - Punkt zwei. Amalia über den Haufen zu schießen wäre löblich, aber es könnte genausogut passieren, daß es dich erwischt - Punkt drei. Und den Nebenbuhler kannst du getrost vergessen - Punkt vier. Die Frau widert mich an.«
»Erschießen wäre wohl wirklich das Beste«, entgegnete Surow gedankenversunken. »Adieu, Erasmus. So Gott will, sehen wir uns wieder.«
Der auf die Erschütterungen der Nacht folgende Tag, so ereignisreich er war, kam Fandorin seltsam zerrissen vor - wie aus einzelnen, recht und schlecht miteinander verklebten Bruchstücken bestehend. Zwar schien es ihm so, als stellte er vernünftige Überlegungen an, faßte vernünftige Entschlüsse, handelte sogar - doch geschah all dies wie losgelöst von ihm und gleichsam außerhalb des Protokolls. Dieser letzte Tag im Juni prägte sich unserem Helden als ein Reigen greller Bilder ein, zwischen denen nichts als gähnende Leere war.
Zum Beispiel dieser Morgen am Themse-Ufer, bei den Docks. Freundliches, sonniges Wetter, die Luft nach dem Gewitter noch frisch. Fandorin sitzt auf dem Blechdach eines flachen Lagerhauses, in Unterwäsche, die nassen Kleider und die Stiefel neben sich ausgebreitet. Der eine Stiefelschaft hat einen langen Riß. Auch Geldscheine und der aufgeschlagene Paß trocknen an der Sonne. Fandorin, dem Wasser glücklich entronnen, hängt seinen Gedanken nach. Verworrenen, abschweifenden Gedanken, die doch immer wieder zum selben hinführen.
Sie nehmen an, daß ich tot bin, aber ich lebe - Punkt eins. Sie nehmen an, daß nun keiner mehr Bescheid weiß, aber ich weiß Bescheid - Punkt zwei. Das Portefeuille bin ich los - Punkt drei. Glauben wird mir kein Mensch - Punkt vier. Am ehesten werde ich ins Irrenhaus eingeliefert - Punkt fünf.
Nein, so nicht. Noch mal von vorn. Sie wissen nicht, daß ich am Leben bin - Punkt eins. Sie werden nicht nach mir suchen - Punkt zwei. Bis Pyshow aus dem Wasser gefischt ist, wird einige Zeit vergehen - Punkt drei. Man könnte die Botschaft aufsuchen und eine chiffrierte Depesche an den Chef .
Nein. Nie und nimmer in die Botschaft. Gut möglich, daß dort mehr als nur ein Judas sitzt. Dann bekäme Amalia Wind davon, und alles begänne von neuem. Diese ganze Geschichte darf überhaupt niemand erfahren. Außer dem Chef. Ein Telegramm ist hierfür ungeeignet. Der Empfänger müßte annehmen, daß Fandorin von so viel europäischen Eindrücken den Verstand verloren hat. Und ein Brief? Könnte gehen - nur braucht der bis Moskau viel zu lange.
Was tun? Was tun? Was tun?
Heute ist, nach europäischem Kalender, der letzte Junitag. Heute wird Amalia einen Strich unter ihre Junibuchhaltung ziehen und einen dicken Brief an Nickolas Croog in Petersburg schicken. Als erster wird wohl der Wirkliche Staatsrat sein Leben lassen - verdienstvoller Beamter, Vater dreier Kinder. Er wohnt ja auch dort in Petersburg, ihn hat man im Nu beim Kragen. Eigentlich ziemlich dämlich: daß da wer aus Petersburg nach London schreibt, und die Antwort kommt wieder aus Petersburg. Scheint man um der Konspiration willen in Kauf zu nehmen. Die Außenstellen der Geheimorganisation dürfen nicht wissen, wo sich der Zentralstab befindet. Oder wandert dieser Stab von einem europäischen
Land ins andere? Ist heute in Petersburg, morgen wer weiß wo? Oder womöglich existiert gar kein Stab, sondern nur eine einzelne Person? Dieser Croog vielleicht? Das wäre zu einfach. Aber man müßte verhindern, daß Croog den Brief bekommt.
Nur, läßt sich ein Brief aufhalten?
Nein. Schlicht unmöglich.
Stopp. Man muß diesen Brief nicht aufhalten, man muß ihm zuvorkommen! Wie viele Tage geht die Post von hier nach Petersburg?
Die nächste Szene spielt Stunden später im Büro des Amtsvorstehers für den Londoner Postbezirk Mitte-Ost. Der Direktor fühlt sich geehrt (immerhin hat Fandorin sich als russischer Fürst vorgestellt), tituliert ihn »Prince« und »Your Highness« und verhehlt nicht die Lust, die ihm das bereitet. Fandorin steht vor ihm im eleganten Einreiher und mit jenem dünnen Spazierstöckchen, ohne das sich ein echter Prince einfach nicht denken läßt.