Выбрать главу

»Es tut mir außerordentlich leid, mein Prince, doch Sie werden Ihre Wette verlieren«, erklärt der Postdirektor dem begriffsstutzigen Russen nun schon zum dritten Mal. »Ihr Land gehört dem Weltpostverband an, welcher vorletztes Jahr ins Leben gerufen wurde und zweiundzwanzig Staaten mit mehr als dreihundertundfünfzig Millionen Einwohnern in sich vereint. Auf diesem Territorium gelten einheitliche Reglements und Tarife. Wenn ein Brief heute, am 30. Juni, in London als Eilpost abgeht, dann schaffen Sie es nicht, ihn zu überholen. Pünktlich in sechs Tagen, am Morgen des 6. Juli, wird er im Postamt von Sankt Petersburg anlangen. Das heißt, nicht am 6. sondern . der wievielte ist das nach Ihrem Kalender?«

»Woher wollen Sie wissen, daß er am 6. anlangt und ich nicht?« äußert der »Fürst« seine Zweifel. »Er wird ja nicht durch die Luft fliegen!«

Mit gewichtiger Miene gibt der Direktor nähere Erläuterungen.

»Sie müssen wissen, Eure Hoheit, Briefe mit Eilpostaufdruck werden ohne den geringsten Aufschub zugestellt. Angenommen, Sie besteigen in Waterloo Station genau den Zug, der Ihren Eilbrief befördert. In Dover schaffen Sie es auf dieselbe Fähre. Und auch in Paris, Gare du Nord, treffen Sie rechtzeitig ein.«

»Na also! Wo ist das Problem?«

»Das Problem ist«, verkündet der Postdirektor feierlich, »daß die Schnelligkeit einer Eilpost einfach nicht zu überbieten ist! Nach Ankunft in Paris müssen Sie umsteigen in den Zug nach Berlin. Dafür müssen Sie eine Fahrkarte erwerben, denn Sie haben verabsäumt, sie vorzubestellen. Sie müssen erst einen Kutscher finden, der Sie von einem Bahnhof quer durch das Zentrum zum anderen fährt. Dort müssen Sie sich gedulden, denn der Berliner Zug fährt nur einmal täglich. Wir haben also Zeit, zu unserem Eilbrief zurückzukehren. Von Gare du Nord wird er in einer das Schienennetz nutzenden Sonderpostdraisine zum nächstbesten Zug transportiert, welcher in östlicher Richtung unterwegs ist. Es muß sich nicht um einen Personenzug handeln, es kann auch ein Güterzug mit Postwagen sein.«

»Aber ich könnte genauso verfahren«, widerspricht Fan- dorin in großer Erregung.

Der Verfechter des europäischen Postwesens kann sich eine gestrenge Antwort nicht versagen.

»Vielleicht wäre so etwas bei Ihnen in Rußland möglich, aber gewiß nicht in Europa. Na gut, der Franzose ließe sich womöglich bestechen, aber spätestens beim Umsteigen nach Berlin würden Sie scheitern - die Post- und Eisenbahnbeamten in Deutschland sind berühmt für ihre Unbestechlichkeit.«

»Dann ist also alles futsch?« ruft Fandorin, der endlich zu begreifen scheint - glücklicherweise auf russisch.

»Wie bitte?«

»Ich meine, Sie halten die Wette für unwiderruflich verloren?« fragt der niedergeschlagene »Fürst« und findet damit zum Englischen zurück.

»Um wieviel Uhr, sagten Sie, ist der Brief abgegangen? Das heißt, nein, es spielt eigentlich keine Rolle. Selbst wenn Sie von hier aus direkt zum Bahnhof führen, Sie kämen zu spät.«

Die Worte des Engländers rufen bei dem russischen Aristokraten eine magische Wirkung hervor.

»Um wieviel Uhr, fragen Sie? Ja, das ist überhaupt die Frage! Wir haben doch noch Juni! Morbid holt die Briefe erst heute abend um zehn! Bis alles abgeschrieben ist . Und chiffriert! Sie wird das Ganze doch nicht einfach unchiffriert verschicken! Sie muß es chiffrieren, was sonst! Also geht der Brief frühestens morgen ab! Und kommt nicht am sechsten an, sondern am siebten! Nach unserem Kalender am fünfundzwanzigsten Juni. Ich habe einen Tag Vorsprung!«

»Mein Prince, ich verstehe leider kein Wort!«

Der Oberpostdirektor hebt die Arme. Fandorin aber ist schon draußen, die Tür fällt hinter ihm ins Schloß.

»Your Highness, the stick!« ruft es hinter ihm her, und: »Oh, those russian boyars.«

Schließlich der Abend dieses beschwerlichen, wie vernebelten und dennoch so wichtigen Tages. Die Fluten des Ärmelkanals. Über dem Meer der letzte, unverschämt rote Sonnenuntergang des Junimonats. Die »Duke of Gloucester« nimmt Kurs auf Dunkerque. Am Bug steht Fandorin, waschechter Brite: Schirmmütze, karierter Anzug, Schottenpelerine. Er schaut angestrengt voraus, zur französischen Küste hinüber, der man sich nur quälend langsam nähert. Auf die Kreidefelsen von Dover blickt Fandorin kein einziges Mal zurück.

»Hoffentlich schickt sie ihn erst morgen ab«, flüstern seine Lippen. »Hoffentlich.«

DREIZEHNTES KAPITEL,

in welchem die Ereignisse des 25. Juni beschrieben sind

Die pralle Sommersonne füllte den Fußboden im Schaltersaal des Petersburger Hauptpostamtes mit goldenen Quadraten. Gegen Abend hatte eines davon, zum schlanken Rechteck gedehnt, den Schalter »Postlagernde Korrespondenzen« erreicht und den zugehörigen Tresen im Nu aufgeheizt. Die Luft wurde stickig und betäubend, auch das Summen einer Fliege war von einschläfernder Wirkung, deren sich der Postangestellte hinter dem Schalter nur mit Mühe erwehren konnte. Der Kundenstrom war gottlob versiegt. Noch ein halbes Stündchen, und die Pforten des Postamts würden schließen, dann war nur noch das Empfangsbuch zu übergeben, und ab nach Hause. Nachdem der Angestellte (wir dürfen ihn getrost beim Namen nennen: Kondrati Kondratjewitsch Schtukin, im siebzehnten Dienstjahr, ehrenvoll vom gemeinen Briefträger zum regulären Postbeamten aufgestiegen) einer betagten Estin mit dem komischen Namen Pürvu ihr Päckchen aus Reval ausgehändigt hatte, schaute er nach, ob der Engländer noch dasaß. Er saß noch da und rührte sich nicht. Wirklich ein beharrliches Volk. Der Engländer war am frühen Morgen, gleich nach Öffnung des Amtes, aufgetaucht, hatte sich mit einer Zeitung neben dem Tresen niedergelassen und den ganzen Tag so versessen - ohne zu essen, ohne zu trinken und ohne, mit Verlaub, eine gewisse Örtlichkeit aufzusuchen. Ein tapferer Mann. Wahrscheinlich hatte ihn jemand hierherbestellt und war nicht gekommen - das konnte einem in diesem Land tagtäglich passieren, aber der Brite, pünktlich und diszipliniert, wie er ist, kennt so etwas nicht. Näherte sich irgendwer, womöglich fremdländisch von Ansehen, dem Schalter, so zeigte sich der Engländer zum Äußersten gespannt, seine blauen Äuglein schienen sich geradezu auf die Nasenspitze vorzuwagen. Doch nie war es der Erwartete. Ein Russe hätte sich längst erbost, mit den Händen gefuchtelt, vor den Umstehenden Klage geführt, der hier blieb fromm sitzen und steckte die Nase in seine »Times«.

Vielleicht wußte der Mann auch nicht, wohin. War direkt vom Bahnhof gekommen (dafür sprachen der karierte Reiseanzug und die Reisetasche!), in der Hoffnung, abgeholt zu werden. Und dann das. Da war guter Rat teuer. Vom Mittagsmahl zurückgekehrt, bekam Kondrati Schtukin Mitleid mit Albions Sproß, und er schickte Trifon, den Amtsdiener, zu ihm hin: ob er ihm vielleicht behilflich sein könne. Doch der Karierte schüttelte nur gereizt den Kopf und gab Trifon ein Zwanzigkopekenstück. Laß mich in Frieden, schien das zu heißen. Auch gut.

Derweil hatte sich ein gemeiner Mann vor dem Schalter aufgebaut, Kutscher dem Anschein nach, und wies einen zerknitterten Ausweis vor.

»Guckst du mal, Bester, ob für Krug was da ist, Krug, Ni- kola Mitrofanowitsch?«

»Woher zu gewärtigen?« fragte Kondrati Schtukin in strengem Ton und griff nach dem Ausweis.

»Von England her, aus der Stadt London«, kam die überraschende Antwort.

Erstaunlicherweise fand sich tatsächlich ein Brief aus London, freilich nicht unter »K«, sondern unter lateinisch »C«. Schau an, ein Mr. Nickolas Croog war gefragt. Was einem nicht alles vorkam an so einem Ausgabeschalter!