»Bist du das auch wirklich?« fragte Schtukin, nicht sonderlich im Zweifel, eher aus Neugier.
»Kannste Gift drauf nehm«, gab der Kutscher einigermaßen grob zur Antwort, schob seine Pranke durch das Schalterfenster und grapschte nach dem dicken gelben Umschlag mit dem Eilpoststempel.
Kondrati Schtukin schob ihm das Empfangsbuch zu.
»Kannst du unterschreiben?«
»Besser als du!« Und der Flegel malte in die Spalte Sendung erhalten einen Krakel.
Schtukin schickte dem unangenehmen Kunden einen erzürnten Blick hinterdrein und spähte alsdann, schon aus Routine, zu dem Engländer hinüber - aber der war weg. Das Warten war ihm wohl nun doch zu dumm geworden.
Klopfenden Herzens stand Erast Fandorin auf der Straße und wartete, daß der Kutscher herauskam. Ein feiner Nicko- las Croog! Die Sache wurde immer obskurer. Jedenfalls war die sechstägige Gewalttour quer durch Europa nicht vergeblich gewesen! Fandorin hatte den Brief eingeholt, überholt, abgepaßt! Jetzt hatte er dem Chef etwas vorzuweisen. Wenn ihm nur dieser Croog nicht durch die Lappen ging.
Am Prellstein döste der Kutscher, der für den ganzen Tag angemietet worden war. Leidend, halb bewußtlos von der erzwungenen Untätigkeit, ärgerte er sich sehr, daß er dem kauzigen Herrn nur ganze fünf Rubel abgeknöpft hatte - für derlei Märtyrerqualen wären auch sechs nicht zuviel gewesen.
Jetzt, als sein Fahrgast endlich auftauchte, kam Leben in den Kutscher, er nahm die Zügel auf - doch Fandorin blickte nicht einmal in seine Richtung.
Das Objekt trat heraus. Kam die Stufen herabgelaufen, setzte die blaue Schirmmütze auf und lief auf eine in der Nähe stehende Kutsche zu. Fandorin folgte bedächtigen Schrittes. Vor der Kutsche blieb das Objekt stehen, nahm die Mütze wieder ab und überreichte mit einer Verbeugung den dicken, gelben Brief. Die Hand eines Mannes, in weißem Handschuh, streckte sich ihm aus der Kutsche entgegen und griff zu.
Auf einmal hatte Fandorin es sehr eilig, dem Unbekannten ins Gesicht zu sehen. Es gelang.
In der Kutsche saß, die Siegel auf dem Brief ins Licht haltend, ein rothaariger Herr mit stechend grünen Augen und zahllosen Sommersprossen im blassen Gesicht. Erast Fan- dorin erkannte ihn sofort. Natürlich, es war Mr. Gerald Cun- ningham in eigener Person - glänzender Pädagoge, Freund der Waisen und Lady Asters rechte Hand.
Den Kutscher hatte Fandorin also umsonst schmoren lassen. Mr. Cunninghams Adresse herauszubekommen konnte kein Problem sein. Zuvor jedoch gab es Dringenderes zu erledigen.
Kondrati Schtukin staunte nicht schlecht, als er den Engländer zurückkehren sah. Und diesmal in großer Eile. Er lief zur Telegrammaufnahme, steckte den Kopf durch das Schalterfenster und begann dem Kollegen Michail Nikolajewitsch zu diktieren - das mußte ja dringend sein. So daß auch Michail Nikolajewitsch ganz geschäftig und beflissen wurde, was nun wirklich nicht seine Art war.
Schtukin packte die Neugier. Er stand auf (keine Kundschaft, gottlob) und ging, wie um sich die Beine zu vertreten, auf die andere Seite der Halle hinüber, wo der Telegraphenapparat stand. Neben Michail Nikolajewitsch, der konzentriert die Taste betätigte, blieb er stehen, reckte sich ein wenig und konnte die schnell hingekritzelten Zeilen lesen:
An Kriminalamt Moskau. Höchste Dringlichkeit. Herrn Staatsrat Brilling persönlich. Bin zurück. Erbitte sofortigen Kontakt. Verbleibe bis Rückantwort am Apparat. Fandorin
Schau einer an. So war das also. Schtukin betrachtete den »Engländer« mit neuen Augen. Ein Kriminalpolizist. Auf Verbrecherjagd. Na so was.
Der Detektiv war keine zehn Minuten in der Halle auf und ab gegangen, als ihm Michail Nikolajewitsch, der erwartungsvoll vor dem Telegrafen ausgeharrt hatte, schon winkte und einen Papierstreifen entgegenstreckte: Das Rücktelegramm war da.
Prompt war auch Kondrati Schtukin zur Stelle - gerade noch rechtzeitig, um zu erspähen, was auf dem Streifen stand:
AN HERRN FANDORIN. HERR BRILLING WEILT IN PETERSBURG. ADRESSE: KATENIN-
SKAJA, HAUS SIEVERS. LOMEJKO, DIENSTHABENDER BEAMTER
Ob dieser Mitteilung geriet der Karierte schier aus dem Häuschen. Er klatschte sogar in die Hände und fragte Kon- drati Schtukin, der neugierig zu ihm hinübersah: »Katenin- skaja, wo ist das? Weit von hier?«
»Durchaus nicht«, erwiderte der Angesprochene höflich. »Von hier aus bequem zu erreichen. Sie nehmen eine Linienkutsche, fahren bis Ecke Newski/Litejny, und von da ...«
»Schon gut, ich hab ja einen Kutscher«, ließ der Detektiv ihn nicht ausreden und eilte, die Reisetasche schwingend, dem Ausgang zu.
Die Kateninskaja gefiel Fandorin außerordentlich. Sie stand den vornehmsten Straßen Berlins oder Wiens in nichts nach: Asphaltbelag, neue, elektrisch betriebene Laternen, solide, mehrstöckige Häuser. Mit einem Wort: Europa.
Das Haus der Sievers - mit steinernen Rittern am Giebel, das Portal trotz der noch fahlen Dämmerung hell erleuchtet - war eines von den schönsten. Einem Mann wie Iwan Brilling war auch kein anderes Quartier zuzutrauen. Ihn sich in einem windschiefen Hüttchen mit staubigem Hof und Apfelbaum im Garten vorzustellen war schlechterdings unmöglich.
Herr Brilling sei zu Hause, wurde er vom gefälligen Portier beruhigt, »vor fünf Minuten eingetroffen«. Fandorin freute sich: Alles ging glatt heute, alles lief wie am Schnürchen.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, flog er die Treppe zum ersten Stock hinauf und drückte einen blankgeputzten goldenen Klingelknopf.
Iwan Brilling öffnete selbst. Er hatte es noch nicht geschafft sich umzuziehen, nur den Gehrock abgelegt. Unter dem hohen Stehkragen schillerte ein Stück Emaille in allen Regenbogenfarben: ein nagelneuer Wladimir-Orden.
»Ich bin’s, Chef!« verkündete Fandorin freudig und war gespannt auf die Wirkung.
Diese überstieg alle Erwartungen.
Brilling stand wie versteinert, hob sogar die Arme, als wollte er sagen: Fort von mir! Weiche, Satan!
Fandorin lachte.
»Mich haben Sie wohl nicht erwartet?«
»Fandorin? Wo kommen Sie her? Ich hatte nicht mehr gehofft, Sie unter den Lebenden zu sehen!«
»Wieso denn das?« fragte der Reisende nicht ohne Koketterie zurück.
»Na, hören Sie mal! Sie waren spurlos verschwunden. Das letzte Mal wurden Sie in Paris gesichtet, am sechsundzwanzigsten. In London sind Sie nie angekommen. Ich habe bei Pyshow angefragt - da heißt es, der sei auch spurlos verschwunden, die Polizei sucht ihn!«
»Ich hab Ihnen aus London einen ausführlichen Brief ans Moskauer Kriminalamt geschickt. Da steht alles drin, auch über Pyshow. Der Brief wird wohl bald eintreffen. Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie in Petersburg sind.«
Der Chef machte ein besorgtes Gesicht.
»Sie sehen mitgenommen aus. Sind Sie etwa krank?«
»Nur furchtbar hungrig, ehrlich gesagt. Ich hab den ganzen Tag auf der Post Wache geschoben und keinen Bissen zwischen die Zähne bekommen.«
»Auf der Post Wache geschoben? Nein, warten Sie, erzählen Sie noch nichts. Wir machen es anders. Als erstes kriegen Sie Tee und Kuchen von mir. Mein Semjon, dieser Strolch, säuft schon den dritten Tag, so daß ich mir selber helfen muß. Ich ernähre mich im wesentlichen von Kuchen und Konfekt aus der Patisserie Filippow. Sie mögen hoffentlich Süßes?«
»Und wie!« bekannte Fandorin ehrlichen Herzens.
»Sehen Sie, ich auch. Das hat mir meine Waisenkindheit eingebrockt. Es macht doch nichts, wenn wir uns in die Küche setzen, auf Junggesellenart?«
Der Weg über den Flur reichte aus, um zu bemerken, daß Brillings Wohnung zwar nicht sonderlich groß, doch ausgesprochen praktisch und mit Sorgfalt eingerichtet war: Nichts war überflüssig, alles Nötige vorhanden. Ein lackierter Kasten mit zwei schwarzen Metalltrichtern an der Wand erregte Fandorins Interesse.