»Das ist ein wahres Wunderwerk der modernen Wissenschaft«, erläuterte Brilling. »Der sogenannte Bellsche Apparat. Unser Agent in Amerika hat ihn neulich geschickt. Dort gibt es einen genialen Erfinder, Mr. Bell, dem wir nunmehr die Möglichkeit verdanken, Wortwechsel über beträchtliche Entfernungen - bis zu mehreren Kilometern - zu führen. Die Übertragung erfolgt mittels Drähten, ähnlich wie beim Telegraphen. Es ist ein Versuchsmuster, die Produktion ist noch nicht angelaufen. In ganz Europa gibt es nur zwei Leitungen: Die eine geht von meiner Wohnung ins Chefsekretariat der Dritten Abteilung, die andere verbindet das Arbeitszimmer des deutschen Kaisers mit Bismarcks Kanzlei in Berlin. Wir sind am Puls des Fortschritts!«
»Toll!« Fandorin staunte. »Und wie ist es, kann man alles gut hören?«
»Gut nicht gerade, aber man versteht es. Manchmal prasselt es im Hörer ganz gewaltig . Würden Sie anstelle des Tees auch mit einer Limonade vorliebnehmen? Ich habe mit dem Samowar so meine Schwierigkeiten.«
»Sehr gern!« versicherte Fandorin, worauf Brilling wie eine gute Fee umgehend eine Flasche Orangenlimonade und einen Teller voll mit Eclairs, Kremkörbchen, Marzipanbaisers und Mandelröllchen vor ihn hinzauberte.
»Langen Sie zu!« sagte Brilling. »Derweil erfahren Sie von mir den neuesten Stand der Dinge. Und anschließend sind Sie dran mit Beichten!«
Fandorin, den Mund bereits voll und das Kinn mit Puderzucker bestäubt, nickte.
»Also«, begann der Chef, »wenn ich mich recht entsinne, brachen Sie am siebenundzwanzigsten Mai nach Petersburg auf, um die diplomatische Post in Empfang zu nehmen? Kurz darauf geschahen in Moskau äußerst spannende Dinge. Ich bereute schon, Sie ziehen gelassen zu haben, jeder Mann wurde gebraucht. Über eine Detektei hatte ich herausbekommen, daß sich vor einiger Zeit eine kleine, jedoch sehr aktive Gruppe von Radikalrevolutionären formiert hat, ein Häuflein Verrückter. Während gewöhnliche Terroristen es als ihre Aufgabe ansehen, die >Blutbesudelten< zu liquidieren, die Würdenträger des Staates sind gemeint, so haben die hier es sich in den Kopf gesetzt, mit den >Blendern< abzurechnen.«
»Mit wem?« Fandorin, abgelenkt von einem auf der Zunge schmelzenden Eclair, hatte nicht richtig zugehört.
»Na, es gibt doch dieses Gedicht von Nekrassow: >Wo die einen nur blenden, die zweiten / sich die Hände besudeln mit Blut / such ich die, die für Liebe sich streiten / ihr entrichten den höchsten Tribut.< Unsere Liebesapostel beschlossen also eine Art Arbeitsteilung. Der Kopf der Organisation behielt sich die >mit Blut Besudelten< vor - Minister, Gouverneure und Generäle. Während unsere Moskauer Fraktion sich um die >Blender< aus dem Lager der >Feisten und Satten< zu kümmern beschloß. Von einem in die Gruppe eingeschleusten Agenten erfuhren wir, daß die Fraktion sich den Namen Asasel gegeben hat - aus ketzerischem Übermut. Geplant war eine ganze Serie von Mordanschlägen auf die Jeunesse doree, die >Parasiten< und >Prasser<. Die Beshezkaja, mutmaßlich Emissärin einer weltumspannenden anarchistischen Vereinigung, schloß sich der Gruppe an. Den Selbstmord Kokorins, der faktisch ein Mord war, hat sie in die Wege geleitet, es war die erste Aktion des >Asasel<. Von der Beshezkaja werden Sie mir ja hoffentlich zu berichten haben. Das nächste Opfer war Achtyrzew, der die Verschwörer noch mehr interessierte als Kokorin, denn er war der Enkel des Kanzlers, Fürst Kortschakow. Eines müssen Sie bedenken, junger Freund: So aberwitzig der Plan der Terroristen einerseits war, so teuflisch gut funktionierte er. Man spekulierte darauf, daß es viel einfacher ist, der Sprößlinge hochgestellter Persönlichkeiten habhaft zu werden als dieser selbst, womit man jedoch der staatlichen Hierarchie einen nicht minder empfindlichen Schlag versetzt. Fürst Kor- tschakow beispielsweise ist vom Tod seines Enkels so erschüttert, daß er sich fast ganz von den Regierungsgeschäften zurückgezogen hat und ernsthaft über einen Rücktritt nachdenkt. Dabei gibt es niemanden, der sich um Rußland, wie es sich heute darstellt, verdienter gemacht hätte als er.«
»Was für gemeine Verbrecher!« Fandorin war so entrüstet, daß er ein angebissenes Stück Marzipan zurück auf den Teller legte.
»Als ich schließlich zur Erkenntnis gelangte, daß die Aktivitäten des >Asasel< in letzter Instanz auf die Tötung des Zesarewitsch abzielten ...«
»Den Kronprinzen? Das kann nicht sein!«
»Leider doch. Als sich dieses herausstellte, bekam ich Order zu handeln. Dem mußte ich Folge leisten, obwohl ich mir lieber erst noch ein vollständiges Bild von der Situation gemacht hätte. Aber Sie begreifen, wenn das Leben Seiner Kaiserlichen Majestät auf dem Spiel steht . Die Operation wurde durchgeführt, leider nicht übermäßig erfolgreich. Für den 1. Juni hatten die Terroristen ein Treffen in diesem Landhaus draußen in Kusminki anberaumt. Ich hatte es Ihnen gegenüber erwähnt, Sie erinnern sich? Nur waren Sie damals ganz besessen von Ihrer eigenen Theorie. Wie steht’s damit? Fündig geworden?«
Fandorin brummte mit vollem Mund, würgte ein Stück Kremröllchen hinunter, doch Brilling zeigte schon Reue:
»Nein, lassen Sie, es hat Zeit. Essen Sie in Ruhe. Wo war ich stehengeblieben? . Wir hatten das Landhaus umstellt. Ich verließ mich ausschließlich auf meine eigenen Petersburger Agenten, ohne die Moskauer Polizei und Gendarmerie hinzuzuziehen, da wir nicht riskieren wollten, daß die Sache vorher ruchbar wurde.« Brilling seufzte, es klang verärgert. »Das war mein Fehler, ich war übervorsichtig. Einen reibungslosen Überfall zu inszenieren, fehlte es mir einfach an Leuten. Es kam zu einer Schießerei. Zwei Agenten wurden verwundet, einer erschossen. Das werde ich mir nie verzeihen ... Lebend haben wir keinen der Terroristen gefaßt, vier blieben tot liegen. Einer könnte Ihrer Beschreibung nach dieser Weißäugige sein. Wobei von den Augen kaum etwas übrig war, mit seiner letzten Kugel hat Ihr spezieller Freund sich den halben Schädel weggeputzt. Im Keller des Hauses fand sich ein Labor zur Herstellung von Höllenmaschinen, auch einiges an Dokumenten, doch wie gesagt, das meiste von den Plänen und Verbindungen des >Asasel< blieb im Dunkeln. Für immer, befürchte ich. Trotzdem ist unsere Moskauer Operation von Seiten des Monarchen, des Kanzlers und des Chefs des Gendarmeriekorps als gelungen eingeschätzt worden. Ich habe Generaladjutant Misinow auch von Ihnen erzählt. Zwar sind Sie am großen Finale nicht beteiligt gewesen, haben uns aber im Laufe der Ermittlungen gute Dienste geleistet. Wenn Sie nichts dagegen haben, sollten wir die Zusammenarbeit fortsetzen. Ich nehme Sie unter meine Fittiche . Haben Sie sich gestärkt? Dann sind Sie jetzt an der Reihe. Was gibt es aus London zu berichten? Sind Sie der Beshezkaja auf die Spur gekommen? Und was zum Teufel ist mit Pyshow los? Ist er tot? Bitte schön der Reihe nach und nur nichts auslassen.« Im Verlaufe der Erzählung seines Chefs war Fandorin immer mehr in Neid entbrannt; seine eigenen Abenteuer, die ihn noch vor kurzem so mit Stolz erfüllt hatten, schrumpften und verblaßten in seinen Augen zusehends. Attentat auf den Thronfolger! Schießerei! Höllenmaschinen! Das Schicksal trieb mit Fandorin seine Scherze: Ruhmestaten in Aussicht stellend, hatte es ihn vom Brennpunkt des Geschehens weg auf klägliche Nebenschauplätze gelockt.
Natürlich schilderte er Brilling seine Abenteuer trotzdem in aller Ausführlichkeit. Einzig die Umstände, derenthalben das blaue Portefeuille wieder verlorengegangen war, beließ er etwas im Vagen, errötete darüber gar ein wenig, was Bril- ling, der schweigend und finsteren Blickes zuhörte, gewiß nicht entging. Auf den Höhepunkt zusteuernd, wurde Fan- dorin wieder forscher und munterer, konnte sich etwas Thea- tralik nicht verkneifen.
»Und ich habe den Mann gesehen!« triumphierte er, als er bei der Szene vor dem Petersburger Postamt angelangt war. »Ich weiß, wo sich der Inhalt des Portefeuilles befindet, wo alle Fäden der Organisation zusammenlaufen! Asasel lebt, Herr Brilling - und wir haben ihn in der Hand!«