»Ja, wen denn, verflucht noch mal!« brüllte der Chef. »Hören Sie doch auf mit dem kindischen Versteckspiel! Wer ist der Mann? Und wo steckt er?«
»Hier in Petersburg«, eröffnete ihm Fandorin, er kostete die Revanche aus. »Es ist ein gewisser Gerald Cunningham, Assistent jener Lady Aster, die ich wiederholt Ihrer Aufmerksamkeit empfahl.« An dieser Stelle hüstelte Fandorin delikat. »Damit klärt sich der Passus in Kokorins Testament. Schlüssig wird, warum die Beshezkaja ihre Verehrer dem Asternat gewogen machte. Und was für ein hübsches Nest sich der Rotfuchs ausgesucht hat! Prima Tarnung, nicht wahr? Arme Waisenkinder, Anstalten in der ganzen Welt, das altruistische Freifräulein, dem alle Türen offenstehen. Geschickt, kann man nicht anders sagen.«
»Cunningham?« fragte der Chef nach, man hörte ihm die Erregung an. »Gerald Cunningham? Diesen Herrn kenne ich bestens, wir verkehren im selben Klub!« Er hob die Arme. »Fürwahr ein einnehmendes Subjekt. Daß er mit den Nihilisten in Verbindung stehen und Wirkliche Staatsräte auf dem Gewissen haben soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
»Hat er auch nicht!« rief Fandorin. »Den Verdacht, daß in den Listen die Namen der Opfer stehen, hatte ich zu Anfang. Ich erwähnte ihn nur, um Ihnen meine Gedankengänge zu erläutern. Man überschaut ja nicht alles auf einmal. Als ich im Zug saß und quer durch Europa zuckelte, hatte ich plötzlich die Erleuchtung. Würde es sich um eine Liste künftiger Opfer handeln, dann stünden dort keine Daten! Schon gar keine zurückliegenden! Das paßt nicht zusammen! Nein, Herr Brilling, es handelt sich um etwas anderes!«
Fandorin war aufgesprungen - so sehr rissen ihn seine eigenen Gedanken mit.
»Etwas anderes?« Brilling kniff die hellen Augen zusammen. »Was denn anderes?«
»Ich denke, es ist die Mitgliederliste einer mächtigen internationalen Organisation. Dann sind Ihre Moskauer Terroristen nur ein kleines, ein klitzekleines Bausteinchen.« Wie der Chef bei diesen Worten dreinschaute, erfüllte Fandorin für einen Moment mit unanständiger Schadenfreude - eine Anwandlung, die ihn gleich darauf beschämte. »Die Schlüsselfigur in dieser Organisation, deren eigentliches Ziel wir noch nicht kennen, ist Gerald Cunningham. Wir kennen ihn beide als Person von außergewöhnlichem Format. >Miss Ol- sen< - seit Juni verkörpert Amalia Beshezkaja diese Person - ist die zentrale Registrierungsstelle der Organisation, eine Art Personalbüro. Hier gehen aus aller Welt Informationen darüber ein, wie sich die berufliche Position ihrer Mitglieder verändert hat. Regelmäßig alle vier Wochen bekommt Cun- ningham, der seit vergangenem Jahr in Petersburg wohnt, von Miss Olsen die neuesten Informationen zugesandt. Ich hatte erwähnt, daß sich im Schlafzimmer der Beshezkaja ein Geheimtresor befindet. Dort lagert vermutlich die vollständige Mitgliederliste des >Asasel<, wie diese Organisation vielleicht tatsächlich heißt. Falls es nicht eher eine Parole ist, etwas wie eine Beschwörungsformel. Ich habe das Wort nun zweimal gehört, und beide Male war man kurz davor, einen Mord zu begehen. Alles in allem fühlt man sich an einen Freimaurerbund erinnert, wobei zu fragen wäre, was ein gefallener Engel damit zu schaffen hat. Und der Aktionsradius scheint unvergleichlich größer. Man stelle sich vor, fünfundvierzig Briefe in einem Monat! Und von was für Leuten: Senatoren, Minister, Generäle!«
Geduldig blickte der Chef Fandorin ins Gesicht, schien auf eine Fortsetzung zu warten, denn der junge Mann war mit seiner Rede offensichtlich noch nicht zu Ende - die Stirn gerunzelt, saß er da und sann über etwas nach.
»Chef, was diesen Cunningham betrifft, so denke ich . Er ist doch britischer Staatsbürger, da kann man nicht mit einem simplen Haussuchungsbefehl bei ihm auftauchen, hab ich recht?«
»Könnte sein. Warum?« ermunterte der Chef ihn fortzufahren.
»Bis Sie die nötigen Rückversicherungen eingeholt haben, ist das Portefeuille so gut versteckt, daß wir es nicht wiederfinden und somit auch nichts beweisen können. Wer weiß, was für Verbindungen der Mann zu den höheren Kreisen hat und wer dort alles für seine Interessen eintritt. Hier müssen wir wohl besondere Vorsicht walten lassen. Wie wäre es, wenn man zunächst einmal in seine russischen Kontakte einhakt und sie Stück für Stück ans Tageslicht zieht?«
»Und wie soll das gehen?« fragte Brilling mit lebhaftem Interesse. »Durch geheime Observierung? Kein schlechter Gedanke.«
»Observierung kann auch nicht schaden, aber ich dachte noch an einen anderen, sichereren Weg.«
Brilling überlegte eine Weile und hob dann die Hände, wie um sich zu ergeben. Fandorin, geschmeichelt, machte eine diskrete Andeutung: »Wie ist es mit dem am siebten Juni ernannten Wirklichen Staatsrat?«
»Ach, Sie meinen, daß man die Ernennungsurkunden prüfen sollte?« Brilling schlug sich an die Stirn. »Zum Beispiel die für die erste Junidekade? Bravo, Fandorin, alle Achtung!«
»Genau, Chef. Nicht mal für die ganze Dekade, es reicht von Montag auf Sonnabend, vom dritten zum achten. Ein frischgebackener General wird die freudige Nachricht kaum länger für sich behalten. Wie viele neue Wirkliche Staatsräte bekommt denn das Imperium pro Woche geschenkt?«
»Zwei, drei vielleicht, wenn es hoch kommt. Dafür hab ich mich, ehrlich gesagt, nie interessiert.«
»Die könnte man gut observieren lassen, Dienstlisten prüfen, Bekanntenkreise erfragen und so weiter. So haben wir unseren Asasel eins, zwei, drei herausdividiert.«
»Sagen Sie mal, stehen eigentlich alle Ihre Neuigkeiten in dem Brief an die Moskauer Kripo drin?« fragte Brilling so unvermittelt, wie es seine Gewohnheit war.
»Natürlich, Chef. Er dürfte baldigst dort eintreffen. Verdächtigen Sie etwa irgendeinen Moskauer Polizeibeamten? Ich habe den Brief extra genau adressiert: An Hochwohlgeboren Staatsrat Brilling zu eigenen Händen resp. im Falle der Abwesenheit an Seine Exzellenz den Oberpolizeipräsidenten. So wird kein anderer wagen, ihn aufzumachen. Und
Seine Exzellenz wird sich nach der Lektüre sowieso mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Das war klug«, lobte ihn Brilling. Dann schwieg er, den Blick zur Wand gerichtet, längere Zeit. Seine Miene verdüsterte sich immer mehr.
Fandorin saß mit angehaltenem Atem dabei. Er wußte, der Chef wog ab, was er gehört hatte, und gleich würde er verkünden, was er zu tun gedachte - seinem Gesicht nach zu urteilen, rang er noch mit sich.
Jetzt tat Brilling einen Seufzer und lächelte bitter.
»Gut, Fandorin, ich nehme es auf mich. Es gibt Krankheiten, die sich nur auf chirurgischem Wege heilen lassen. Genau das müssen wir nun tun. Die Sache ist von staatstragender Bedeutung, und in solchen Fällen bin ich befugt, Formalitäten außer acht zu lassen. Wir greifen uns Cunningham. Und zwar sofort, in flagranti, das heißt, mitsamt dem Brief. Glauben Sie, daß die Papiere chiffriert sind?«
»Ganz gewiß. Die Informationen sind zu brisant. Und der Brief ist mit der normalen Post gegangen - na gut, mit der Eilpost. Trotzdem kann alles mögliche passieren: Er geht verloren, gerät in falsche Hände, was weiß man. Nein, Chef, die gehen auf Nummer Sicher.«
»Dann erst recht. Cunningham wird also noch am Dechiffrieren und Lesen sein, anschließend wird er alles in seine Kartei übertragen. Ganz bestimmt hat er eine Kartei! Ich fürchte, die Beshezkaja hat einen Begleitbrief geschrieben, in dem sie ihm von Ihren Nachstellungen berichtet, und Cunningham wird klug genug sein, sich auszumalen, daß Sie einen Bericht nach Rußland geschickt haben könnten. Nein, wir dürfen nicht warten, die Sache muß sofort geschehen. Den Begleitbrief hätten wir ja auch gern gelesen. Und dieser Pyshow läßt mir keine Ruhe. Was, wenn er nicht der einzige ist, den sie gekauft haben? Mit der englischen Botschaft unterhalten wir uns hinterher. Die werden sich bedanken. Sie sagten, daß auch Untertanen von Queen Victoria auf der Liste stehen?«