»Beinahe ein ganzes Dutzend.« Fandorin nickte und schaute seinem Vorgesetzten verliebt in die Augen. »Cun- ningham sofort zu stellen wäre natürlich das Beste, aber . Was ist, wenn wir hinfahren und nichts finden? Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Sie meinetwegen irgendwelche ... Also, ich würde selbstverständlich vor jeder Instanz .«
»Hören Sie bloß auf!« versetzte Brilling gereizt und reckte das Kinn. »Meinen Sie etwa, ich würde mich im Falle eines Fiaskos hinter meinem Lehrjungen verstecken? Ich glaube an Sie, Fandorin. Das muß reichen.«
»Danke«, sagte Fandorin leise.
Brilling verbeugte sich sarkastisch.
»Nichts zu danken. Und jetzt genug der Liebenswürdigkeiten. Zur Sache. Cunninghams Adresse kenne ich, er wohnt auf der Apothekerinsel, im Seitengebäude des Petersburger Asternats. Haben Sie eine Waffe?«
»Ja, ich habe in London einen Revolver gekauft. Smith&Wesson. Liegt im Gepäck.«
»Zeigen Sie her.«
Fandorin beeilte sich, den schweren Revolver, der ihm ebendieser Schwere und Solidität wegen außerordentlich gefiel, aus der Garderobe zu holen.
»Schund!« warf der Chef hin, als er die Waffe in der Hand wog. »Der mag für die amerikanischen Kuhjungen gut sein, wenn sie im Saloon betrunken aufeinander losballern. Für einen seriösen Agenten taugt er nichts. Den nehme ich Ihnen ab. Ich habe was Besseres für Sie.«
Er ging aus dem Zimmer und kam nach kurzer Zeit mit einer kleinen, flachen Pistole wieder, die beinahe ganz auf seine Handfläche paßte.
»Das ist eine belgische Herstal, sieben Schuß. Nagelneu, Sonderanfertigung. Wird am Rücken getragen, in einem kleinen Holster unter dem Jackett. In unserem Handwerk einfach unersetzlich. Sie ist leicht, schießt zwar nicht weit und nicht besonders genau, ist aber dafür ein Selbstlader, was eine schnelle Schußfolge garantiert. Wir müssen ja nicht dem Eichhörnchen das Auge ausschießen, nicht wahr? Und am Leben bleibt in der Regel, wer als erster schießt, und möglichst nicht nur einmal. Anstelle des Hahns gibt es einen Sicherungsknopf, hier, schauen Sie. Er geht straff, damit das Ding nicht versehentlich losschießt. Den klickt man so rein, und dann kann man alle sieben Schuß hintereinander abfeuern. Klar?«
»Klar.« Fandorin konnte sich nicht satt sehen an dem hübschen Spielzeug.
»Sie können sich ihn später in Ruhe angucken. Jetzt ist keine Zeit dafür!« Brilling drängte seinen Gast in Richtung Wohnungstür.
»Werden wir ihn zu zweit festnehmen?« fragte Fandorin frohlockend.
»Reden Sie keinen Blödsinn.«
Brilling blieb neben dem Bellschen Apparat stehen, ergriff einen der wie ein Horn geformten Trichter, legte ihn sich ans Ohr und drehte an einer kleinen Kurbel. Der Apparat gab ein Grunzen von sich, etwas in ihm schepperte. Brilling hielt das Ohr vor das andere aus dem lackierten Kasten ragende Hörnchen, darin piepste es. Fandorin meinte im Nachhinein gehört zu haben, wie ein dünn und komisch klingendes Stimmchen die Worte »diensthabender Adjutant« und »Kanzlei« sprach.
»Nowgorodzew, sind Sie es?« brüllte Brilling in den Hörer. »Ist Seine Exzellenz anwesend? Nein? Was? Nein, nein, nicht nötig. Nicht nötig, sag ich!« Er holte tief Luft und brüllte nun noch lauter. »Einen dringenden Haftbefehl! Sofort, zur Apothekerinsel! A-po-the-ker-in-sel! Ja! Asternat, Seitengebäude. As-ter-nat! Egal, was das ist, die wissen schon Bescheid! Außerdem einen Trupp zur Haussuchung! Was? Ja, ich komme auch. Und schnellstens, Major. Schnellstens!«
Er stellte den Trichter an seinen Platz und wischte sich die Stirn.
»Uff! Ich kann nur hoffen, daß Mister Bell seine Konstruktion noch verbessert, sonst sind meine Nachbarn bald über alle Geheimaktionen der Dritten Abteilung im Bilde!«
Fandorin war noch ganz im Banne der eben vor seinen Augen geschehenen Zauberei.
»Das ist ja wie in >Tausend und einer Nacht!< Phänomenal! Und da gibt es immer noch Leute, die den Fortschritt verdammen wollen!«
»Über den Fortschritt können wir unterwegs reden. Dummerweise habe ich die Kutsche weggeschickt, wir müssen also eine neue auftreiben. Lassen Sie bloß Ihr verfluchtes Gepäck stehen! Abmarsch!«
Ein Gespräch über den Fortschritt ergab sich freilich vorerst nicht - den Weg zur Apothekerinsel legten sie schweigend zurück. Fandorin befand sich in fieberhafter Erregung. Ein paarmal versuchte er den Chef anzusprechen, doch vergebens: Brilling war übel gelaunt. Anscheinend hatte er mit der eigenmächtigen Anordnung der Operation doch einiges riskiert.
Über der Newa graute der Abend so fahl, daß man es kaum bemerkte. Die weiße Sommernacht des Nordens konnte ihnen heute nur recht sein, dachte Fandorin - zum Schlafen würden sie ohnehin nicht kommen. Dabei hatte er auch die vorige, im Zug verbrachte Nacht kein Auge zugetan, viel zu groß war die Aufregung gewesen, ob er den Brief wohl noch abpaßte. Der Kutscher tat für den versprochenen Rubel sein Bestes, jagte die fuchsrote Stute unbarmherzig, so daß sie schnell an Ort und Stelle waren.
Das Petersburger Asternat, ein ansehnliches gelbes Gebäude, das früher dem Ingenieurkorps gehört hatte, reichte in der Größe nicht an das Moskauer heran, lag dafür jedoch inmitten von üppigem Grün. Ein paradiesisches Örtchen - ringsum nichts als Parks und vornehme Sommerhäuser.
»Herrje, was soll nur aus den Kindern werden!« seufzte Fandorin.
»Was schon«, gab Brilling polternd zur Antwort. »Mylady sucht sich einen neuen Direktor, und fertig.«
Das sogenannte Seitengebäude war in Wirklichkeit eine imposante Villa aus Katharinas Zeiten, an einer schönen, schattigen Straße gelegen. Fandorin fiel eine Ulme auf, deren Krone vom Blitzschlag verkohlt war und die ihre toten Äste zu den erleuchteten Fenstern der hochgelegenen ersten Etage reckte. Im Haus war es still.
»Na prima, die Gendarmen sind noch nicht da«, sagte der Chef. »Wir warten nicht auf sie, Cunningham darf uns nicht entwischen. Reden werde ich, Sie halten den Mund. Und seien Sie auf jede Art Überraschung gefaßt!«
Fandorin fuhr sich mit der Hand unter die Rockschöße und tastete nach dem beruhigend kühlen Metall seiner Herstal. Das Herz klopfte ihm im Hals - nicht vor Angst, in Bril- lings Gegenwart fühlte er sich sicher, nein, vor Ungeduld. Gleich, gleich würde sich alles entscheiden!
Brilling zog energisch an der Schnur mit dem kupfernen Glöckchen, ein melodisches Bimmeln ertönte. Im offenen Fenster der Beletage erschien der rote Schopf.
»Machen Sie auf, Cunningham«, sagte der Chef laut. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen!«
»Brilling?« staunte der Engländer. »Was ist los?«
»Im Klub ist es etwas vorgefallen. Ich muß Sie warnen.«
»Einen Moment, ich komme hinunter. Der Diener hat heute seinen freien Tag.« Der Kopf verschwand.
»Alles klar«, wisperte Fandorin. »Das mit dem Diener sagt er nur so. Bestimmt hat er über den Papieren gesessen!«
Brilling trommelte nervös mit den Fingerknöcheln gegen die Tür - Cunningham schien es nicht eilig zu haben.
»Nicht, daß er uns abhaut?« fragte Fandorin unruhig. »Was ist mit der Hintertreppe? Soll ich um das Haus laufen und mich dort postieren?«
Doch da ertönten drinnen Schritte, und die Tür ging auf.
Auf der Schwelle stand Cunningham im langen, mit Schnüren und Knebeln zu schließenden Morgenmantel. Seine stechend grünen Augen blieben einen Moment lang an Fandorin hängen, die Brauen zuckten verräterisch. Er hatte ihn erkannt!
»What’s happening?« fragte der Engländer mißtrauisch.
»Gehen wir in Ihr Kabinett«, gab Brilling auf russisch zur Antwort. »Es ist sehr wichtig.«
Cunningham zögerte eine Sekunde, dann hieß er die ungebetenen Gäste mit einer Handbewegung folgen.
Zu dritt stiegen sie eine Treppe aus Eichenholz nach oben und standen kurz darauf in einem Zimmer, das stattlich, doch nicht luxuriös möbliert war. Die Wände entlang zogen sich lückenlos Regale mit Büchern und irgendwelchen Ordnern, am Fenster, neben einem kleinen Schreibtisch aus karelischer Birke, gab es ein Gestell mit lauter kleinen Kästen, von denen jeder ein goldenes Schildchen trug.