Fandorin fand diese Kästen nicht weiter aufregend (Cun- ningham würde seine Geheimdokumente wohl kaum in dieser leicht zugänglichen Form aufbewahren), viel mehr interessierten ihn die auf dem Tisch liegenden, von der letzten Nummer der »Börsennachrichten« nur notdürftig abgedeckten Papiere.
Iwan Brilling schien die Sache ähnlich zu sehen - er durchquerte das Zimmer und stellte sich neben dem Tisch in Position, das offene, bis zu den Kniekehlen hinunterreichende Fenster im Rücken. Der Abendwind bewegte sacht die Tüllgardine.
Fandorin begriff das Manöver seines Chefs sofort und blieb neben der Tür stehen. Jetzt war für Cunningham kein Entkommen.
Der Engländer schien Böses zu ahnen.
»Sie benehmen sich eigenartig, Brilling«, sagte er in tadellosem Russisch. »Und was sucht dieser Mann hier? Ich kenne ihn, er ist Geheimpolizist.«
Brilling, die Hände in den Taschen seines weiten Gehrocks, sah Cunningham von unten her an.
»Stimmt, er ist Polizist. Und in ein paar Minuten werden hier noch viel mehr Polizisten sein, darum kann ich mich nicht mit Erklärungen aufhalten.«
Die rechte Hand des Chefs tauchte aus der Tasche hervor, Fandorin sah seine Smith&Wesson darin stecken, doch sich zu wundern blieb keine Zeit. Im nächsten Moment hatte auch er die Pistole gezogen. Es war soweit!
»Don’t ...!« schrie der Engländer und riß den Arm hoch, da krachte schon der Schuß.
Cunningham kippte nach hinten. Fandorin stand wie erstarrt. Er sah die weit aufgerissenen, noch lebendigen grünen Augen und das schwarze Loch mitten auf der Stirn.
»Mein Gott, Chef, warum denn das?«
Er drehte sich zum Fenster - und blickte in eine schwarze Revolvermündung.
»Den haben Sie auf dem Gewissen«, sprach Brilling mit gekünstelt klingender Stimme. »Sie sind ein zu guter Detektiv. Und darum, mein junger Freund, werde ich Sie erschießen müssen, was mir aufrichtig leid tut.«
VIERZEHNTES KAPITEL,
in welchem die Geschichte eine gänzlich andere Wendung nimmt
Der arme Fandorin verstand überhaupt nichts. Er stolperte ein paar Schritte vorwärts.
»Zurück!« fuhr ihn der Chef an. »Und fuchteln Sie nicht so mit dieser Pistole herum, die ist ja doch nicht geladen. Sie hätten ruhig mal nachschauen können. Wie kann einer nur so verdammt gutgläubig sein! Keinem darf man trauen außer sich selbst!«
Brilling holte aus der linken Rocktasche genau die gleiche Herstal-Pistole hervor; die rauchende Smith&Wesson warf er Fandorin vor die Füße.
»Die hier dagegen ist vollständig geladen, wovon Sie sich gleich überzeugen können«, sagte Brilling; die Gehässigkeit in seiner Stimme nahm mit jedem Wort zu. »Ich werde sie dem unglücklichen Cunningham in die Hand legen, und es wird so aussehen, als hätten Sie beide einander im Schußwechsel getötet. Ein Ehrenbegräbnis mit tränenreichen Grabreden ist Ihnen sicher. Ich weiß doch, wieviel Wert Sie darauf legen. Und hören Sie endlich auf, mich anzugucken wie ein dummes Kalb!«
Fandorin sah mit Schrecken, daß der Chef den Verstand verloren haben mußte; er unternahm einen verzweifelten Versuch, ihn aus seiner jähen geistigen Umnachtung zurückzuholen, und brüllte: »Chef, ich bin es, Fandorin! Hallo, Herr Brilling! Herr Staatsrat!«
»Wirklicher Staatstat, wenn ich bitten darf«, sagte Brilling und grinste schief. »Sie sind nicht auf dem neuesten Stand, Fandorin. Per kaiserlichem Erlaß befördert am siebten Juni, für die erfolgreiche Durchführung einer Operation zur Unschädlichmachung der terroristischen Vereinigung >Asasel<. Sie dürfen mich also mit Eure Exzellenz ansprechen.«
Brillings dunkle Silhouette vor dem Fenster wirkte wie ein Scherenschnitt auf grauem Papier. Die nach allen Seiten strebenden toten Äste der Ulme hinter seinem Rücken bildeten ein tückisches Spinnennetz. Eine Spinne, eine Giftspinne! blitzte es durch Fandorins Kopf. Sie hat ihr Netz gewebt, und ich stecke drin.
Brillings Gesicht verzerrte sich wie im Schmerz, und Fan- dorin begriff, daß der Chef einen Grad an Entschlossenheit erreicht hatte, der ihn gleich würde abdrücken lassen. Eine Eingebung schoß ihm durch den Kopf, die augenblicklich zu einer Kette kleinster Gedankensplitter zerfieclass="underline" Die Herstal wird per Knopfdruck entsichert, der Knopf geht straff, halbe Sekunde, Viertelsekunde, wie soll ich das schaffen, wie soll ich .
Schrill aufheulend, die Augen zusammengekniffen, hechtete Fandorin nach vorn, rammte den Kopf gegen das Kinn seines Chefs.
Fünf Schritt, nicht mehr, waren sie voneinander entfernt gewesen. Das Klicken der Entsicherung hatte Fandorin nicht gehört. Der Schuß aber ging in die Decke. Beide, Brilling ebenso wie Fandorin, fielen um und stürzten über den niedrigen Sims aus dem Fenster.
Mit Wucht prallte Fandorin bäuchlings gegen den Stamm der toten Ulme, dann rutschte er, Äste abbrechend und sich das Gesicht schürfend, abwärts. Der Aufschlag war so hart, daß ihm die Sinne schwinden wollten, doch der zähe Überlebensinstinkt ließ es nicht zu. Fandorin stemmte sich auf die Knie und schaute wild um sich.
Der Chef war nirgends zu sehen. Dafür entdeckte er an der Hauswand die kleine schwarze Herstal-Pistole. Wie eine Katze sprang er, immer noch auf allen vieren, darauf zu, krallte sie sich und drehte den Kopf nach allen Seiten.
Brilling war verschwunden.
Auf die Idee, nach oben zu schauen, kam Fandorin erst, als er ein gepreßtes Röcheln vernahm.
Es sah absurd und gespenstisch aus, wie Brilling in der Luft hing. Seine blankgeputzten Halbstiefel zappelten über Fan- dorins Kopf. Unter dem Wladimir-Kreuz, da, wo sich ein roter Fleck auf der gestärkten Hemdbrust ausbreitete, ragte ein spitzer, abgebrochener Ast heraus, der den hochverehrten Generalmajor regelrecht durchbohrt hatte. Das Gräßlichste aber war, daß die hellen Augen Fandorin ansahen.
»Ekelhaft«, hörte er den Chef deutlich sagen, das Gesicht vor Schmerz oder Abscheu verzerrt. »Ist das ekelhaft . « Und dann, stöhnend, mit ganz fremd scheinender Stimme:
»A-sa-sel«
Ein eiskalter Schauer überlief Fandorin vom Scheitel bis zur Sohle. Brilling röchelte noch eine halbe Minute und verstummte.
Als hätten sie nur darauf gewartet, klapperten jetzt Hufe und holperten Wagenräder über das Pflaster vor dem Haus. Die Kutschen mit den Gendarmen rollten an.
Generaladjutant Lawrenti Arkadjewitsch Misinow, Chef der Dritten Abteilung und des Gendameriekorps, rieb sich die vor Müdigkeit roten Augen. Die goldenen Achselschnüre an seiner Paradeuniform klingelten leise. Nicht einmal zum Umziehen hatte er Zeit gefunden seit dem gestrigen Abend, als ihn ein Eilkurier vom Ball aus Anlaß des Namenstages Seiner Durchlaucht des Großfürsten Sergej Alexandrowitsch geholt hatte, geschweige zum Schlafen. Denn seither war die Hölle los.
Mißmutig blickte der General auf den Jungen, der mit zerrauftem Haarschopf neben ihm saß und die geschundene Nase in die Papiere steckte. Zwei Nächte hatte der nicht geschlafen und schien frisch wie der junge Morgen. Benahm sich, als hätte er sein Lebtag in hochherrschaftlichen Kabinetten gesessen. Gleichviel! Sollte er ruhig noch ein bißchen weiterzaubern. Hingegen Brilling! Das wollte einem einfach nicht in den Kopf.
»Wie steht’s, Fandorin, sind Sie bald fertig? Oder hat Sie schon wieder eine von Ihren Ideen auf Abwege geführt?« fragte der General streng; was ihn selbst betraf, so waren nach der durchwachten Nacht und dem erschöpfenden Tag keine Ideen mehr zu erwarten.
»Gleich, Hohe Exzellenz, gleich«, murmelte der Milchbart. »Fünf Einträge hab ich noch. Ich hatte Ihnen ja gleich prophezeit, daß die Liste chiffriert sein würde. Und schauen Sie, wie raffiniert! Die Hälfte der Buchstaben haben wir noch nicht heraus, und ich kann mich auch nicht an alle Namen, die da standen, entsinnen. Aha, hier haben wir den Oberpostdirektor aus Dänemark, wer sagt’s denn! Und der hier? Der erste Buchstabe ein Kreuz, also nicht entschlüsselt, der zweite auch ein Kreuz, der dritte ein M, der vierte noch ein M, dann wieder ein Kreuz, dann ein N, ein D, das fraglich ist, und am Ende zwei Lücken. Sehen Sie, was sich ergibt: + +MM+ND? + + .«