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»Mumpitz!« Generaladjutant Misinow seufzte. »Brilling hätte es sofort heraus gehabt. Sind Sie wirklich sicher, daß das bei ihm nicht nur ein Koller war? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ...«

»Absolut sicher, Hohe Exzellenz«, beteuerte Erast Fan- dorin zum wer weiß wievielten Mal. »Und ich habe deutlich gehört, wie er das Wort Asasel ausgesprochen hat. Stopp! Ich hab’s! In der Liste der Beshezkaja gab es einen Commander. Das muß er sein.«

»Commander? Das ist ein Rang bei der britischen und amerikanischen Flotte«, wußte der General zu erläutern. »Er entspricht unserem Kapitän im zwoten Rang.« Wütend begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. »Asasel, Asasel, was brockt uns dieser Asasel noch alles ein! Das hieße ja, wir wären so schlau wie am Anfang! Brillings Moskauer Ermittlungen wären keinen Heller wert! Alles Blödsinn, Schwindel, Fiktion - die Terroristen genauso wie das Attentat auf den Thronfolger? Nur um die Spuren zu verwischen? Hat er uns gar falsche Leichen angedreht? Oder ein paar echte Nihilistenbrüder als Köder? Von ihm darf man alles erwarten, er war ein sehr, sehr fähiger Mann. Himmelherrgott, wo bleiben die Durchsuchungsberichte! Wie lange wollen die denn noch wühlen?«

Die Tür schob sich einen Spalt auf, darin erschien ein Kopf mit goldener Brille und blasser, magerer Physiognomie.

»Hohe Exzellenz? Rittmeister Beloserow!«

»Na endlich! Wie gerufen. Soll reinkommen.«

Das Kabinett betrat, müde blinzelnd, ein nicht mehr ganz junger Gendarmerieoffizier, den Fandorin schon am gestrigen Abend in Cunninghams Haus gesehen hatte.

»Wir haben sie, Hohe Exzellenz«, rapportierte er leise. »Erst hatten wir Haus und Garten in Planquadrate aufgeteilt, alles umgewühlt und durchkämmt - Ergebnis gleich null. Dann ist Agent Eulensohn, ein Detektiv mit besonderem Riecher, auf die Idee gekommen, im Asternatskeller die Wände abzuklopfen. Und was glauben Sie, Lawrenti Arka- djewitsch? Wir haben ein Geheimverlies gefunden, eine Art;

photographisches Laboratorium, und darin zwanzig Kästen zu je an die zweihundert Karteikarten. Seltsam verschlüsselt, sieht aus wie Hieroglyphen, ganz anders als in dem Brief. Ich habe angeordnet, daß die Kästen hergebracht werden. Außerdem habe ich die komplette Chiffrierabteilung aus den Betten geholt, sie gehen sogleich an die Arbeit.«

»Ausgezeichnet, Beloserow, ganz ausgezeichnet« lobte der General, dessen Gesichtszüge sich aufgehellt hatten. »Und den mit dem Riecher sollten Sie zur Auszeichnung vorschlagen. Nun denn, begeben wir uns mal in die Chiffrierstube. Kommen Sie mit, Fandorin, das wird Sie doch auch interessieren. Hier können Sie anschließend weitermachen, das hat ja jetzt Zeit.«

Sie stiegen zwei Stockwerke höher und schritten eilig einen Korridor entlang, der kein Ende nehmen wollte. Als sie schließlich um eine Ecke bogen, kam ihnen ein Beamter, mit den Armen rudernd, entgegengerannt.

»Ein Unglück, Hohe Exzellenz, ein Unglück! Die Tinte verblaßt vor unseren Augen, wir wissen nicht, was los ist!«

Misinow fegte in einem Tempo davon, das man seiner massigen Figur nicht zugetraut hätte; die goldenen Kamillen an seinen Epauletten flatterten wie Mottenflügel. Beloserow und Fandorin ließen es jedoch an Ehrerbietung fehlen und überholten den Vorgesetzten, um als erste durch die hohe weiße Flügeltür zu stürmen.

In dem großen, mit Schreibtischen vollgestellten Raum herrschte helle Aufregung. Ein gutes Dutzend Beamter flitzte um die Unmengen säuberlich beschnittener weißer Kartellen, die sich auf den Tischen stapelten. Fandorin griff nach dem erstbesten: Die Schriftzeichen, die tatsächlich chinesischen Hieroglyphen ähnelten, waren gerade noch zu erkennen, er konnte zusehen, wie sie verschwanden, kurze Zeit später hielt er ein blütenweißes Kärtchen in der Hand.

»Was ist das für eine Hexerei!« rief der keuchende General. »Irgendwelche Geheimtinten?«

»Ich befürchte weit Schlimmeres, Hohe Exzellenz«, meinte ein Herr von professoralem Aussehen, nachdem er eines der Kärtchen bei Licht besehen hatte. »Rittmeister, hatten Sie nicht gesagt, die Kartei habe sich in einer Art Photographenkammer befunden?«

»Zu Befehl!« bestätigte Beloserow ehrerbietig.

»Erinnern Sie sich an die Beleuchtung! War es zufällig rotes Licht?«

»Richtig, da war eine rote elektrische Lampe.«

»Dachte ich mir. Tja, Lawrenti Arkadjewitsch, die Kartei ist leider irreparabel hinüber.«

»Wie? Das kann nicht sein!« brauste der General auf. »Nein, Herr Kollegienrat, ich darf doch bitten, denken Sie sich gefälligst etwas aus. Sie sind ein Meister Ihres Fachs, eine Koryphäe!«

»Nur leider kein Zauberer, Hohe Exzellenz. Augenscheinlich sind die Karten mit einer speziellen Lösung imprägniert, so daß sich nur bei Rotlicht mit ihnen arbeiten ließ. Die Schicht, auf die die Buchstaben aufgetragen sind, ist nun belichtet. Raffiniert, das muß man sagen. So etwas ist mir noch nicht untergekommen.«

Der General hob und senkte die buschigen Brauen, schnaufte bedrohlich. Im Zimmer wurde es still - ein Unwetter drohte. Doch das Gewitter entlud sich nicht.

»Gehen wir, Fandorin«, versetzte der Chef der Dritten Abteilung mit tonloser Stimme. »Die Arbeit ruft.«

Die zwei letzten chiffrierten Einträge blieben unentschlüs- selt - sie waren erst am dreißigsten Juni hinzugekommen, so daß Fandorin keine Chance hatte, sie wiederzuerkennen. Man durfte nun erste Schlüsse ziehen.

Der müde General Misinow hatte seine Wanderung durch das Kabinett wieder aufgenommen und überlegte laut.

»Fassen wir das wenige zusammen, was wir haben. Es existiert eine internationale Organisation, deren Name möglicherweise >Asasel< ist. Der Anzahl Karten nach zu urteilen, die zu lesen uns nicht mehr vergönnt ist, umfaßt sie 3854 Mitglieder. Über siebenundvierzig von ihnen - respektive fünfundvierzig, zwei Einträge sind nicht entschlüsselt - wissen wir etwas. Allerdings nicht viel - nur die nationale Zugehörigkeit und den Stand. Keine Namen, keine Altersangaben, keine Adressen. Was wissen wir noch? Die Namen zweier Asaseller: Cunningham und Brilling. Beide tot.

Außerdem wissen wir von einer Amalia Beshezkaja in England - falls Ihr Surow sie nicht getötet hat und falls sie nicht schon außer Landes ist und falls sie überhaupt so heißt. >Asa- sel< agiert aggressiv, schreckt nicht vor Mord und Totschlag zurück, hat sich offensichtlich einem höheren Zweck verschrieben. Nur welchem? Es sind keine Freimaurer, das wüßte ich, bin ja selbst einer, und nicht irgendeiner ... Äh, hm. Das Letzte haben Sie nicht gehört.«

Fandorin zog verlegen den Kopf zwischen die Schultern.

»Es ist auch nicht die Sozialistische Internationale«, fuhr Misinow fort, »für derlei Aktionen sind die Herren Kommunisten nicht intelligent genug. Und Brilling ein Revolutionär - das kann nun wirklich nicht sein. Was immer er da heimlich getrieben hat, Nihilisten hat mein lieber Kollege stets mit Ernst und Erfolg gejagt. Was also bezweckt dieser >Asa- sel<? Das ist die große Frage. Und keinerlei Anhaltspunkte.

Cunningham tot. Brilling tot. Dieser Nikolai Krug ist eine unwichtige Figur, ein Handlanger. Pyshow, dieser Lump, ist tot. Alle Fäden verlaufen im Sande.« Misinow hob entrüstet die Schultern. »Nein, ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll! Ich habe Brilling seit über zehn Jahren gekannt. Ich habe ihn zu dem gemacht, was er zuletzt war! Er war meine Entdeckung! Stellen Sie sich vor, Fandorin: Damals als Generalgouverneur von Charkow habe ich alle möglichen Wettbewerbe für Gymnasiasten und Studenten ausschreiben lassen, um bei der jungen Generation Patriotismus zu wecken und das Bedürfnis, sich fürs Vaterland nützlich zu machen. Man brachte mir einen dürren, ungelenken Jungen, Abiturient, der einen sehr vernünftigen und leidenschaftlichen Aufsatz zum Thema »Rußlands Zukunft« verfaßt hatte. Glauben Sie mir, sein Werdegang und seine geistigen Anlagen ließen an einen jungen Lomonossow denken - ohne Stammbaum und Adel, Vollwaise, hat jede Kupferkopeke gespart, um Unterricht zu bekommen, und bestand auf Anhieb die Prüfung für die siebte Gymnasialklasse. Als reiner Autodidakt! Ich übernahm persönlich die Patenschaft, habe ihn mit einem Stipendium ausgestattet, an die Petersburger Universität geschickt und anschließend zu mir ins Amt geholt, was ich kein einziges Mal bereut habe! Er war der fähigste von meinen Leuten, mein engster Vertrauter! Er hat eine glänzende Karriere gemacht, mit den besten Aussichten! Was für ein heller, paradoxer Geist, welche Energie und Verläßlichkeit! Die eigene Tochter wollte ich ihm zur Frau geben, großer Gott!« Der General faßte sich an den Kopf.