Fandorin, der die Gefühle seines Vorgesetzten respektierte, ließ eine Pause verstreichen, ehe er sich hüstelnd zu Wort meldete.
»Hohe Exzellenz, ich wollte bemerken ... Wir haben freilich nicht sehr viele Anhaltspunkte, aber . einige schon!«
Der General schüttelte den Kopf, wie um die unnützen Erinnerungen zu verscheuchen, und setzte sich an den Tisch.
»Ich höre. Legen Sie los, Fandorin. Keiner kennt sich in dieser Geschichte besser aus als Sie.«
»Ja, also, was ich meine, ist . « Fandorin schaute auf seine Liste, strich etwas mit Bleistift an. »Es gibt hier siebenundvierzig Personen, davon zwei unentschlüsselt, und der Wirkliche Staatsrat Iwan Brilling zählt schon nicht mehr. Wenigstens acht von ihnen dürften einfach zu identifizieren sein. Überlegen Sie doch mal, Hohe Exzellenz. Wieviel Chefs kann die Leibwache des Kaisers von Brasilien schon haben? Oder hier, N° 47F - belgischer Ministerialdirektor, abgesandt am 11. Juni, eingegangen am 15. Bestimmt unschwer festzustellen, wer das ist. Damit hätten wir schon zwei. Drittens, N° 549F - Vizeadmiral der französischen Flotte, abgesandt: 15. Juni, eingegangen: 17. Viertens, N° 1007F - frischgebackener englischer Baronet, abgesandt: 9. Juni, eingegangen: 10. Fünftens, N° 694F - portugiesischer Minister, abgesandt: 29. Mai, eingegangen: 7. Juni.«
»Den können Sie vergessen«, unterbrach ihn der General, der sehr konzentriert zugehört hatte. »Die Portugiesen hatten im Mai einen Regierungswechsel, da sind alle Minister im Kabinett neu.«
»Ach so?« Fandorin ärgerte sich. »Na schön, dann sind es nicht acht, sondern sieben. Als fünften hätten wir dann einen Amerikaner: Nummer 852F - stellvertretender Senatsausschußvorsitzender, abgesandt am 10. Juni, eingegangen am 28. in meinem Beisein. Sechstens, Nummer 1042F, Türkei, persönlicher Sekretär des Prinzen Abd ul-Hamid, abgesandt: 1. Juni, eingegangen am 20.«
Dieser Punkt schien Misinow besonders zu interessieren.
»Sagen Sie bloß? Das ist ein wichtiger Hinweis. Tatsächlich am 1. Juni? Na, sowas. Am 30. Mai gab es in der Türkei einen Staatsstreich, Sultan Abd ul-Asis ist gestürzt worden, der neue Machthaber Midhat Pascha hat Murad V inthronisiert. Und schon am nächsten Tag soll er Abd ul-Hamid, Murads jüngerem Bruder, einen neuen Sekretär zugewiesen haben? Das ist mir aber verdächtig eilig, sagen Sie mal! Eine hochinteressante Information. Dieser Midhat Pascha wird doch am Ende nicht auch Murad loswerden und Abd ul-Hamid auf den Thron heben wollen? He, he . Gut, Fandorin, das ist nicht Ihr Bier. Den Sekretär herauszufinden ist übrigens ein Kinderspiel. Ich werde nachher gleich an Nikolai Pawlowitsch Gnatjew telegrafieren, das ist unser Botschafter in Konstantinopel, ein alter Freund von mir. Fahren Sie fort.«
»Ja, bleibt noch der Siebente, Nummer 1508F - Präfekt einer Schweizerischen Kantonspolizei, abgesandt am 25. Mai, eingegangen am 1. Juni. Die restlichen aufzudecken wird schwierig bis unmöglich sein. Aber wenn man zumindest diese sieben ausfindig machte und verdeckt observierte .«
»Geben Sie die Liste her!« sagte der General und streckte die Hand aus. »Ich werde sofort anordnen, daß die betreffenden Botschaften verschlüsselte Depeschen erhalten. Man wird mit den Geheimdiensten der Länder zusammenarbeiten müssen. Abgesehen von der Türkei, wo wir selbst über ein vorzügliches Netz verfügen . Übrigens, lieber Fandorin, falls ich etwas sehr schroff zu Ihnen war, sehen Sie es mir nach. Ich schätze Ihren Beitrag natürlich außerordentlich und so weiter . Mir geht die Sache einfach sehr nah, müssen Sie wissen. Wegen Brilling ... Sie verstehen.«
»Ich verstehe, Hohe Exzellenz. Mir geht es ja selbst, in gewisser Weise, ganz genauso.«
»Das ist gut. Das ist hervorragend. Sie werden bei mir arbeiten. Am Fall Asasel. Ich bilde eine Sonderkommission, aus den erfahrensten Leuten. Wir werden diesen Knoten zerschlagen, dafür sorge ich.«
»Hohe Exzellenz, ich müßte einmal nach Moskau fahren.«
»Wozu?«
»Um mit Lady Aster zu sprechen. Sie selbst wird, da sie ja eher ein himmlisches, denn ein irdisches Wesen ist« - an dieser Stelle lächelte Fandorin - »über Cunninghams wahre Machenschaften kaum unterrichtet gewesen sein, doch immerhin kannte sie den Mann von Kindesbeinen an und könnte durchaus etwas Nützliches zu erzählen haben. Und das muß ja nicht auf offiziellem Weg über die Gendarmerie geschehen, nicht wahr? Ich habe das Glück, Mylady ein wenig zu kennen, sie wird sich vor mir nicht fürchten, und englisch spreche ich auch. Vielleicht ergibt sich noch irgendein neuer Anhaltspunkt? Vielleicht ist Cunninghams Vergangenheit der Schlüssel zu etwas?«
»Selbstverständlich. Fahren Sie. Aber nicht länger als einen Tag. Und jetzt gehen Sie erst einmal schlafen, mein Adjutant wird Ihnen ein Quartier zuweisen. Morgen nehmen Sie den Abendzug nach Moskau. Wenn wir Glück haben, sind bis dahin schon die ersten Rückdepeschen aus den Botschaften da. Übermorgen früh, den 28. sind Sie in Moskau, reden mit Lady Aster, und am Abend erwarte ich Sie zurück, Sie erstatten mir umgehend Bericht. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, verstanden?«
»Verstanden, Hohe Exzellenz.«
Ein sehr vornehmer alter Herr mit stattlichem Schnauzbart, Brillantnadel an der Krawatte, zigarrerauchend, stand im Zug von Sankt Petersburg nach Moskau auf dem Gang des
Erste-Klasse-Wagens und starrte mit unverblümter Neugier auf die verschlossene Tür des Coupes N° 1.
»Hallo, Verehrtester!« Mit rundlichem Finger winkte er den just in diesem Moment auftauchenden Kondukteur zu sich heran.
Der kam geflogen und verbeugte sich vor dem hochrangigen Passagier. »Zu Ihren Diensten!«
Der gnädige Herr nahm ihn mit zwei Fingern am Kragen, zog ihn zu sich heran und raunte mit Baßstimme: »Der junge Mann, der in der N° 1 reist - was ist das für einer? Hast du eine Ahnung? Scheint noch arg jung zu sein.«
»Wundert mich auch«, entgegnete der Kondukteur im Flüsterton. »Bekanntlich ist die N° 1 hochprominenten Personen vorbehalten, da hat nicht mal jeder General ein Anrecht. Nur wer in dringenden Staatsangelegenheiten reist.«
»Ist mir bekannt.« Der gnädige Herr blies einen Strahl Rauch in die Luft. »Bin selbst einmal darin gefahren, geheime Inspektionsreise nach Noworossijsk. Aber was sucht dieser Grünschnabel da? Vielleicht irgendein Junior? Reicher Nichtsnutz?«
»Wo denken Sie hin, solche sind in N° 1 nicht gelitten, da ist man sehr streng. Höchstens ausnahmsweise mal ein junger Großfürst. Nach dem hier hab ich mich erkundigt, aus der Passagierliste beim Herrn Zugführer war etwas zu erfahren.«
Der Bedienstete hatte die Stimme noch mehr gesenkt.
»Na, und?« wurde er von dem neugierigen Herrn zur Indiskretion ermuntert.
Ein üppiges Trinkgeld vorhersehend, legte der Schaffner den Finger auf die Lippen.