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»Aus der Dritten Abteilung. Geheimdetektiv mit Sonderauftrag.«

»Ja nun, freilich mit Sonderauftrag. Mit einem einfachem säße er nicht in N° 1.« Der gnädige Herr machte eine vielsagende Pause. Dann fragte er: »Was genau?«

»Er hat sich da einquartiert und läßt sich seither nicht blicken. Ich habe ihm zweimal Tee angeboten, um zu sehen, was er macht. Sitzt über irgendwelchen Papieren und schaut nicht auf. Wir sind in Petersburg mit fünfundzwanzig Minuten Verspätung abgefahren, wie Ihnen gewiß aufgefallen sein wird. Nur seinetwegen. Es gab Anweisung zu warten, bis er kommt.«

»Oho!« staunte der Passagier. »Hat man so was schon gehört!«

»Kommt vor, aber äußerst selten.«

»Und der Name stand auf der Liste nicht vermerkt?«

»Leider nein. Weder Rang noch Name.«

Unterdessen versuchte Fandorin aus den knappen, wenige Zeilen umfassenden Berichten schlau zu werden und fuhr sich nervös durch die Haare. Ein mystisches Grauen schnürte ihm die Kehle zu.

Kurz vor Abfahrt zum Bahnhof war Misinows Adjutant in der Dienstwohnung erschienen, wo Fandorin beinahe den ganzen Tag hindurch tief und fest geschlafen hatte, und hieß ihn noch warten - die ersten drei Depeschen aus den Botschaften seien eingetroffen, man entschlüssele sie soeben. Es dauerte eine geschlagene Stunde, so daß Fandorin den Zug zu verpassen fürchtete, doch der Adjutant wußte ihn diesbezüglich zu beruhigen.

Kaum befand sich Fandorin in dem geräumigen, mit grünem Samt tapezierten Coupe (darin ein Schreibtisch, ein weiches Sofa und zwei Nußbaumstühle, deren Beine am Boden angeschraubt waren), als er den Brief öffnete und zu lesen begann.

Die drei Depeschen stammten aus Washington, Paris und Konstantinopel. Der Kopf stimmte bei allen überein:

Dringend! An Ew. Hohe Exzellenz Lawrenti Arkadjewitsch Misinow in Beantwortung der Depesche N° 13476/8g v. 26. Juni 1876.

Die Schreiben waren von den Gesandten persönlich gezeichnet. Dem Inhalt nach waren sie sehr verschieden.

27. Juni (9. Juli) 1876,12.15 Uhr. Washington Die angefragte Person heißt John Pratt Dobbs und wurde am 9. Juni d.J. zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Senatsausschusses für Finanzen gewählt. Der Mann ist in Amerika sehr populär. Ein Millionär von der Sorte, die hierzulande selfmade man genannt wird. Alter: 44. Über die frühe Lebensphase, Geburtsort, Herkunft etc. ist nichts bekannt. Gelangte vermutlich in Zeiten des kalifornischen Goldfiebers zu Reichtum. Gilt als unternehmerisches Genie. Während des Bürgerkriegs war er Berater des Präsidenten Lincoln in Finanzfragen. Manch einer ist der Ansicht, man habe es dem Bemühen Dobbs’ und beileibe nicht den Verdiensten der Unionsgeneräle zu danken, daß der kapitalistische Norden den Sieg über den konservativen Süden davontrug. Im Jahr 1872 wurde Dobbs in den Senat des Bundesstaates Pennsylvania gewählt. Aus gut unterrichteten Kreisen verlautet, daß er als künftiger Finanzminister gehandelt wird.

9. Juli (27. Juni) 1876,18.45 Uhr. Paris.

Wie durch Vermittlung des Ihnen bekannten Geheimagenten Coco aus dem Kriegsministerium zu erfahren war, ist Konteradmiral Jean Entrepide, seit jüngstem Kommandeur des Siamesischen Flottengeschwaders, am 15. Juni zum Vizeadmiral befördert worden. Es handelt sich um eine der legendärsten Persönlichkeiten in der französischen Flotte. Vor zwanzig Jahren wurde von einer französischen Fregatte vor der Küste von Tor- tuga ein auf offener See treibendes Boot gesichtet, darin ein Knabe, der offensichtlich einen Schiffbruch überlebt hatte. Durch das Abenteuer war der Knabe vollkommen des Gedächtnisses beraubt, wußte weder seinen Namen noch seine Nationalität zu benennen. Als Schiffsjunge an Bord genommen, erhielt er den Namen der betreffenden Fregatte. Er machte glänzende Karriere. Nahm teil an zahlreichen Expeditionen und kolonialen Eroberungen. Erwarb sich besondere Verdienste im Mexikokrieg. Letztes Jahr sorgte J. E. in Paris für eine echte Sensation, als er die älteste Tochter des Herzogs de Rohan ehelichte. Details aus der Biographie der angefragten Person folgen im nächsten Bericht.

27. Juni 1876, 2 Uhr nachmittags. Konstantinopel Mein lieber Lawrenti, Deine Anfrage hat mich ordentlich überrascht. Die Sache ist die, daß ich auf Anwar Effendi, an dem Du ein so dringendes Interesse bekundest, schon geraume Zeit ein wachsames Auge habe. Dieses Subjekt, ein Vertrauter von Midhat Pascha und Abd ul-Hamid, gehört den mir vorliegenden Informationen zufolge zu den Schlüsselfiguren einer derzeit heranreifenden Palastrevolte. Der Sturz des jetzigen Sultans und die Thronbesteigung Abd ul-Hamids ist nur noch eine Frage der Zeit. Dann wird Anwar Effendi zweifellos eine außerordentlich einflußreiche Position gewinnen. Er ist sehr klug, europäisch gebildet, spricht eine große Zahl östlicher und westlicher Sprachen. Leider vermögen wir nicht mit detailliertem biographischem Material zu diesem interessanten Herrn aufzuwarten. Man weiß nur, daß er nicht älter als fünfunddreißig sein kann und irgendwo in Serbien oder Bosnien geboren sein muß. Sein Stammbaum liegt im Dunkeln, es gibt keinerlei Angehörige, was sich für die Türkei als sehr günstig erweisen könnte, sollte Anwar eines Tages Wesir werden. Man stelle sich vor: ein Wesir und kein Schwarm habgieriger Verwandter! Hierzulande einfach undenkbar. Anwar ist so etwas wie die »graue Eminenz« des Midhat Pascha, aktives Mitglied der »Partei neuer Osmanen«. Habe ich Deine Neugier befriedigen können? Dann befriedige Du auch die meine. Wozu ist Dir mein Anwar Effendi denn nütze? Was weißt Du von ihm? Bitte unverzüglich mitteilen, könnte von Wichtigkeit sein.

Fandorin las die Depeschen nun schon zum x-tenmal, machte Anstreichungen. In der ersten: Über die frühe Lebensphase, Geburtsort, Herkunft etc. ist nichts bekannt; in der zweiten: wußte weder seinen Namen noch seine Nationalität zu benennen; in der dritten: Stammbaum liegt im Dunkeln, es gibt keinerlei Angehörige. Man konnte das Grausen bekommen. Wie es sich darstellte, waren alle drei irgendwie urplötzlich, aus dem Nichts aufgetaucht, um sofort mit einer jedes menschliche Maß übersteigenden Zielstrebigkeit die Karriereleiter zu erklimmen. Waren das Mitglieder irgendeiner rätselhaften Sekte? Oder womöglich - o Gott! - überhaupt keine Menschen, sondern Wesen von einem anderen Stern? Marsbewohner zum Beispiel? Handelte es sich, schlimmer noch, um Teufelsspuk? Fan- dorin fröstelte es, da er an seine nächtliche Begegnung mit dem »Gespenst« Amalia dachte. Auch so ein Geschöpf von unklarer Herkunft, diese Beshezkaja. Und dann noch diese satanische Formeclass="underline" Asasel. Das roch geradezu nach Schwefel.

Es klopfte leise an die Tür, Fandorin zuckte zusammen, fuhr mit der Hand hinter den Rücken, an sein verstecktes Holster, ertastete den rauhen Griff der Herstal.

Das unterwürfige Gesicht des Kondukteurs erschien im Türspalt.

»Euer Exzellenz, in Kürze haben wir einen Aufenthalt. Wollen Sie sich vielleicht ein wenig die Beine vertreten? Es gibt auch einen Erfrischungsraum.«

Bei dieser Anrede straffte Fandorin unwillkürlich den Rücken und warf einen verstohlenen Blick in den Spiegeclass="underline" Konnte man ihn allen Ernstes für einen General halten? Sich die Füße zu vertreten fand er indes keine schlechte Idee, im Gehen dachte es sich leichter. Schon die ganze Zeit beschäftigte ihn ein unausgegorener Gedanke, der ihm, sobald er ihn packen wollte, immer wieder entglitt, so als wollte er sagen: Grabe ruhig ein bißchen weiter, vielleicht kommst du noch drauf.

»Warum nicht. Wie lange stehen wir?«

»Zwanzig Minuten. Aber Sie müssen sich nicht sputen, ohne Sie fahren wir sowieso nicht los«, fügte der Kondukteur kichernd hinzu.

Fandorin sprang vom Trittbrett auf den von Laternenlicht überfluteten Bahnsteig. Nicht mehr alle Coupefenster waren erhellt - ein paar Passagiere hatten sich wohl schon schlafen gelegt. Sich behaglich reckend und die Arme hinter dem Rücken kreuzend, rüstete sich Fandolm zu einem Spaziergang, der die Gehirntätigkeit ein wenig anregen sollte. In diesem Moment jedoch stieg hinter ihm aus demselben Waggon ein würdevoller Herr mit Bart und Zylinder und warf ihm einen auffälligen, forschenden Blick zu, bevor er seiner jugendlichen Reisegefährtin den Arm bot. Beim Anblick ihres frischen, entzückenden Gesichts fühlte sich Fandorin wie vom Blitz getroffen. Dem Fräulein ging ein Strahlen über das Gesicht, und sie rief mit glockenheller Stimme: »Papa!« - sie betonte das Wort auf der letzten Silbe - »Papa, sieh mal, da ist der Herr von der Polizei! Von dem ich dir erzählt habe, erinnerst du dich? Na, der das Fräulein Pfuhl und mich verhört hat!«