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Letzteres äußerte sie mit offenkundigem Stolz, und ihre blanken anthrazitfarbenen Augen sahen Fandorin voller Neugier an. Um der Wahrheit Genüge zu tun: Durch die sich überschlagenden Ereignisse der letzten Wochen war die Erinnerung an jene, die Fandorin für sich Lisanka getauft und manchmal, in besonders träumerischen Momenten, gar Engelchen genannt hatte, etwas in den Hintergrund getreten. Nun jedoch, beim Anblick dieses liebreizenden Geschöpfs, war die Glut, die seither im Herzen des armen Kollegienregistrators vor sich hin glomm, sofort aufs neue entfacht, loderte hell und sprühte leuchtende Funken.

»Ich bin genaugenommen kein Polizist«, murmelte Fan- dorin errötend. »Fandorin, Angestellter für besondere Dienste bei .«

»Ich weiß, ich weiß, je vous le dis tout cru«, sagte der bärtige Herr mit Verschwörermiene, und der Brillant auf seiner Krawatte blitzte. »Geheime Staatssache, Sie müssen nicht indiskret werden. Entre nous sois dit, ich hatte selbst wiederholt Gelegenheit, in derlei Angelegenheiten unterwegs zu sein, habe vollstes Verständnis.« Er lupfte den Zylinder. »Aber gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Wirklicher Geheimrat Alexander Apollodorowitsch Ewert-Kolokolnikow, Präsident der Moskauer Gouvernementsgerichtskammer. Meine Tochter Lisa.«

»Nennen Sie mich lieber Lizzy, Lisa gefällt mir nicht, es klingt wie der schiefe Turm von Pisa«, erbat sich das Fräulein und machte sodann ein naives Geständnis: »Ich habe oft an Sie gedacht. Emma haben Sie genauso gefallen. Ich weiß sogar noch Ihren Vor- und Vatersnamen: Erast Petrowitsch. Erast, ein hübscher Name.«

Fandorin glaubte zu träumen. Ein wunderbarer Traum. Wenn er nicht daraus erwachen wollte, durfte er sich nicht rühren.

FÜNFZEHNTES KAPITEL,

in welchem die Nützlichkeit richtigen Atmens auf das Eindringlichste bewiesen wird

In Gesellschaft Lisankas (an »Lizzy« mochte Fandorin sich nicht gewöhnen) war es gleich angenehm zu reden und zu schweigen.

Rhythmisch schaukelte der Waggon über die Schienenstöße; der Zug fegte in atemberaubendem Tempo, mit einem gelegentlichen Fauchen aus seiner Dampfpfeife, über die verschlafenen, im Morgennebel schwimmenden Waldaihöhen; Lisanka und Erast saßen im Coupe N° 1 auf ihren weichen Stühlen und schwiegen. Zumeist sahen sie aus dem Fenster, von Zeit zu Zeit jedoch schauten sie einander an, und wenn die Blicke sich zufällig kreuzten, war ihnen das nicht etwa peinlich, im Gegenteil, es war lustig und schön. Fandorin gab sich am Ende Mühe, den Kopf so schnell herumzudrehen, daß er den Blick von Lisanka noch erhaschte; wenn es ihm gelang, prustete sie leise.

Reden mußte man schon deswegen nicht, weil man den Herrn Baron hätte wecken können, der friedlich schlummernd auf dem Diwan saß. Noch vor kurzem hatten der Wirkliche Geheimrat und Fandorin eine angeregte Diskussion zur Balkanfrage geführt, doch dann, beinahe mitten im Satz, begann der alte Herr zu schnarchen, und der Kopf sank ihm auf die Brust. Dort hing er nun und schaukelte im Takt der ratternden Räder - ta-dam, ta-dam - hin und her.

Lisanka schien sich still über etwas zu freuen. »Sie sind so klug und wissen alles«, erklärte sie auf Fandorins fragenden

Blick. »Wie Sie Papa vorhin über Midhat Pascha und Abd ul- Hamid Bescheid gegeben haben . Ich dagegen bin schrecklich dumm, das können Sie sich nicht vorstellen.«

»Sie können gar nicht dumm sein«, flüsterte Fandorin aus tiefster Überzeugung.

»Ach, wenn es nicht so peinlich wäre, könnte ich Ihnen was erzählen ... Ach, ich tu’s einfach. Ich habe das Gefühl, Sie werden mich nicht auslachen. Oder höchstens mit mir zusammen. Stimmt’s?«

»Stimmt!« rief Fandorin, und da der Baron im Schlaf mit den Brauen zuckte, fand der junge Mann zum Flüsterton zurück. »Ich werde Sie niemals auslachen.«

»Also gut, versprochen! Damals, nach Ihrem Besuch, hab ich mir so allerlei ausgemalt, wissen Sie . Ein hübsches Märchen, mit viel Gefühl und tragischem Ende, wie sich’s gehört. Das Ende der >Armen Lisa< von Karamsin, entsinnen Sie sich? Lisa und Erast? Den Namen fand ich schon immer wunderschön. Jedenfalls hab ich mir vorgestellt, wie ich im Sarg liege, ertrunken oder an der Schwindsucht gestorben, bleich und schön anzusehen, gebettet auf weißen Rosen, und Sie stehen am Sarg und schluchzen, Papa und Mama genauso, und Emma schneuzt sich in ihr Taschentuch. Kurios, nicht wahr?«

Fandorin bestätigte es ihr.

»Was für ein Zufall, daß wir uns auf dem Bahnsteig begegnet sind. Wir waren ma tante besuchen und sollten eigentlich schon gestern zurückfahren, aber Papa hatte noch dienstlich im Ministerium zu tun, und wir haben die Billetts umgetauscht. Ist das nicht ein erstaunlicher Zufall?«

»Wieso Zufall?« Fandorin tat verwundert. »Das war ein Fingerzeig des Schicksals.«

Draußen vor dem Fenster gab es einen seltsamen Himmel zu sehen: tiefschwarz mit rotem Saum am Horizont. An die Depeschen, die fahl schimmernd auf dem Tisch herumlagen, dachte Fandorin in diesem Moment nicht mehr.

Eine Droschke beförderte Fandorin vom Bahnhof Nikola- jewskaja quer durch das morgendliche Moskau nach Cha- mowniki. Der Tag versprach klar und freundlich zu werden; Lisankas jauchzende Abschiedsworte (»Sie kommen doch ganz gewiß heute abend? Versprochen?«) klangen ihm noch süß in den Ohren.

Vom Zeitplan her fügte sich alles ganz prächtig. Zuerst einmal ins Asternat, zur Lady. In die Gendarmerieverwaltung, zum Gespräch mit dem Vorsteher, besser hinterher - dann konnte er, falls er von Lady Aster etwas Wichtiges erfuhr, dem Generaladjutanten Misinow gleich telegrafieren. Andererseits könnten während der Nacht die restlichen Depeschen aus den Gesandtschaften eingetroffen sein. Fandorin entnahm seinem neuen silbernen Zigarettenetui eine Papirossa und zündete sie sich ungeschickt an. Sollte er vielleicht doch lieber erst zur Gendarmerie fahren? Aber das Pferdchen trabte ja schon fröhlich Richtung Ostoshenka, jetzt noch umzudrehen wäre töricht gewesen. Sei’s drum: Erst die Lady, dann das Amt, dann nach Hause, ein paar Sachen zusammenpacken und in einem ordentlichen Hotel Quartier nehmen, umziehen, Blumen kaufen - und dann, so gegen sechs, auf in die Malaja Nikitskaja, zu den Ewert-Ko- lokolzews! Erast Fandorin lächelte selig und sang: »Er war leider nur Titularrat und sie Generals liebstes Kind. Er tat ihr die Liebe erklären, doch sie war vor Hochmut ganz blind .«

Da war auch schon das Haus mit dem eisernen Tor, dem gestreiften Pförtnerhäuschen und dem blau uniformierten Bediensteten darin.

Fandorin beugte sich etwas nach vorn und rief: »Wo finde ich Lady Aster? Im Asternat oder drüben?«

»Um die Tageszeit pflegt sie drüben in der Direktion zu sein«, rapportierte der Torwächter brav, und die Kutsche ratterte weiter, in die stille Seitenstraße hinein.

Vor dem zweistöckigen Direktionsgebäude hieß Fando- rin den Kutscher warten, wobei er ihm geduldig zu sein empfahclass="underline" Das Gespräch konnte sich hinziehen.

Der nämliche aufgeblasene Türhüter, den die Lady mit Timothy angesprochen hatte, lungerte vor der Tür herum, diesmal ließ er sich allerdings nicht die Sonne auf den Pelz scheinen, sondern war in den Schatten gerückt; die Junisonne stach um einiges heftiger als jene im Mai.