Doch verhielt sich dieser »Timothy« deutlich anders als damals, bewies geradezu psychologisches Feingefühclass="underline" Er nahm die Mütze ab, verbeugte sich und fragte mit reichlich Zucker in der Stimme, wen zu melden genehm sei. Irgend etwas an Fandorins Erscheinung mußte sich in den letzten vier Wochen so verändert haben, daß der im Stamme der Türhüter tief verwurzelte Instinkt, zuzuschnappen und den Einlaß zu verwehren, nicht mehr ansprang.
»Nicht nötig, ich kenne den Weg.«
Timothy dienerte, sperrte anstandslos die Tür auf und ließ den Besucher an sich vorbei in das mit Leinwand tapezierte Foyer, von wo Fandorin den im hellen Sonnenlicht liegenden Korridor entlang zu der bekannten weißgoldenen Tür gelangte. Sie ging auf, noch bevor er angeklopft hatte, ein hochaufgeschossenes Subjekt in gleicher blauer Livree und weißen Strümpfen, wie Timothy sie trug, sah den Gast fragend an.
»Staatsbeamter Fandorin, Dritte Abteilung, in dringender Angelegenheit«, sagte Fandorin streng, doch das Pferdegesicht des Lakaien blieb ungerührt, Fandorin mußte sich noch einmal auf englisch erklären: »State police, inspector Fandorin, on urgent officialBusiness.«
Wieder zuckte kein Muskel in dem versteinerten Gesicht, doch schien der Sinn des Gesagten angekommen zu sein: Affektiert zog der Lakai das Kinn zur Brust und verschwand hinter der Tür, die er fest hinter sich zuzog.
Nach einer halben Minute ging sie von neuem auf. Lady Aster persönlich stand auf der Schwelle. Der Anblick des alten Bekannten malte ein freudiges Lächeln auf ihr Gesicht.
»Ach, Sie sind es, mein lieber Junge. Andrew meinte, irgendein hoher Herr von der Geheimpolizei. Treten Sie ein! Wie geht es Ihnen? Sie sehen erschöpft aus!«
»Ich komme eben aus Petersburg«, erklärte Fandorin, während er das Arbeitszimmer der Lady betrat. »Vom Bahnhof geradewegs zu Ihnen, die Sache pressiert.«
»Ach ja.« Die Baronesse nickte traurig, während sie sich in ihren Sessel setzte und den Gast mit einer Geste gegenüber Platz nehmen ließ. »Bestimmt wünschen Sie mit mir über den lieben Gerald Cunningham zu sprechen. Es ist wie ein böser Traum, ich kann es nicht begreifen. Andrew, nimm dem Herrn doch bitte den Polizeihut ab. Mein alter Diener, vor kurzem aus England gekommen. Der wackere Andrew, wie hatte ich ihn vermißt! Geh, Andrew, geh, mein Freund, ich brauche dich vorerst nicht mehr.«
Der knochige Andrew, der dem Gast weder wacker noch geheuer vorkam, tat eine Verbeugung und entfernte sich. Fandorin suchte in dem harten Lehnstuhl eine bequeme Sitzposition zu finden - die Unterhaltung versprach länger zu dauern.
»Mylady, ich bin tief betrübt ob des Vorgefallenen, doch leider mußten wir feststellen, daß Herr Cunningham, ihr Intimus und langjähriger Gehilfe, in kriminelle Geschichten größeren Ausmaßes verstrickt war.«
»Und jetzt wollen Sie vermutlich meine russischen Aster- nate schließen?« fragte die Lady leise. »Herrje, was soll aus den Kindern werden? Sie haben sich doch gerade erst an ein normales Leben zu gewöhnen begonnen. Und wie viele Talente in ihnen schlummern! Ich werde Seiner Majestät ein Bittschreiben senden. Vielleicht wird mir gestattet sein, meine Zöglinge mit ins Ausland zu nehmen.«
»Ihre Befürchtungen sind ganz umsonst«, sagte Fandorin milde. »Den Asternaten wird gewiß nichts geschehen. Es wäre doch der reinste Frevel. Nein, ich möchte Ihnen einige Fragen zu Cunningham stellen, weiter nichts.«
»Selbstverständlich! Fragen Sie, was Sie wollen. Gerald, der arme Teufel . Wissen Sie, er stammte aus bestem Hause, doch seine Eltern erlitten auf der Rückreise aus Indien Schiffbruch, und so wurde der Junge mit elf Jahren Waise. Bei uns in England herrschen unerbittliche Erbfolgegesetze, der älteste Sohn ist Alleinerbe, Titel und Vermögen fallen ausschließlich ihm zu, und die Jüngeren gehen häufig vollkommen leer aus. Gerald war der jüngste Sohn eines jüngsten Sohnes, mittellos und ohne Bleibe, die Verwandten scherten sich nicht um ihn. Hier, sehen Sie, ich schreibe gerade einen Beileidsbrief an seinen Onkel, ein nichtsnutziger Gentleman, der sich für Gerald nie interessiert hat. Aber was hilft es, wir Engländer legen nun einmal großen Wert auf Formalitäten!« Lady Aster ließ einen Briefbogen sehen, der mit engen, altmodischen Schriftzügen voller Schnörkel und Kringel gefüllt war. »Jedenfalls habe ich das Kind damals zu mir genommen. Gerald legte eine hervorragende mathematische Begabung an den Tag, ich meinte damals, er müßte
Professor werden, doch sein unsteter Geist und sein Ehrgeiz standen einer Gelehrtenlaufbahn entgegen. Bald bemerkte ich, daß der Junge bei den anderen Kindern große Autorität genoß, es gefiel ihm, Anstifter zu sein. Er war eine Führernatur: mit seltener Willenskraft, Disziplin, einem untrüglichen Gespür für die Stärken und Schwächen von Menschen. Im Asternat von Manchester wurde er zum Sprecher gewählt. Ich hatte erwartet, daß Gerald in den Staatsdienst eintreten oder sich mit Politik befassen würde - aus ihm wäre ein hervorragender Kolonialbeamter geworden, später vielleicht sogar ein Generalgouverneur. Wie groß war mein Erstaunen, als er den Wunsch äußerte, bei mir zu bleiben und Erziehungsarbeit zu leisten!«
»Ja, freilich!« nickte Fandorin. »So bekam er Gelegenheit, auf die ungefestigten kindlichen Naturen Einfluß zu nehmen und später Kontakte zu den Absolventen aufzubauen.« Fandorin hielt inne, ihm war plötzlich ein Einfall gekommen. Aber ja! Unbegreiflich, daß er das nicht früher erkannt hatte!
»Schon bald war Gerald für mich unersetzlich geworden«, fuhr die Lady fort; den veränderten Gesichtsausdruck ihres Gegenüber schien sie nicht zu bemerken. »Wie selbstlos und unermüdlich er tätig war! Und dazu dieses einzigartige linguistische Talent: Ohne ihn wäre ich über die Arbeit der Filialen in so vielen Ländern nie und nimmer auf dem laufenden geblieben. Daß ihm dieser unmäßige Ehrgeiz zusetzte war mir klar. Das ist ein Kindheitstrauma: den Anverwandten beweisen zu wollen, daß man es auch ohne sie zu etwas bringt. Ich fühlte diesen seltsamen Zwiespalt, fühlte ihn sehr genau: Bei seinen Fähigkeiten und Ambitionen mochte er sich mit der bescheidenen Rolle eines Pädagogen nie zufriedengeben, da konnte das Gehalt noch so anständig sein.«
Fandorin hörte nicht mehr zu. Als wäre in seinem Kopf eine Glühbirne angegangen - alles, was zuvor im Dunkeln gewesen, lag nun im hellen Licht. Alles paßte zusammen! Der wer weiß woher aufgetauchte Senator Dobbs, der französische Admiral »ohne Gedächtnis«, der türkische Effendi ungewisser Abkunft, na, und der tote Brilling auch, jawohl! Überirdische Wesen? Marsmenschen? Invasoren aus dem Jenseits? Pustekuchen! Alle waren sie Asternatszöglinge! Findelkinder! Ausgesetzte! Wohlgemerkt nicht in dem Sinne, daß sie heimlich vor die Asternatstür gelegt worden wären, nein, umgekehrt: Von hier hatte man sie ausgesetzt - in alle Welt! Jeder war in trefflicher Weise ausgebildet worden, jeder verfügte über ein geschickt hervorgekitzeltes, sorgfältig gehegtes Talent! Gewiß nicht zufällig hatte man den kleinen Jean ins Fahrwasser einer französischen Fregatte geschoben - der Knabe mochte die Anlagen zu einem überdurchschnittlichen Seemann gehabt haben. Es mußte allerdings Gründe geben, weshalb man darauf bedacht war, die Herkunft des Wunderkinds zu verschleiern. Und diese lagen auf der Hand. Hätte die Welt erfahren, wieviel glänzende Karrieristen aus den Brutkästen der Lady Aster hervorgingen, sie wäre auf der Hut gewesen! So aber schien sich alles ganz von selbst zu ergeben. Ein sanfter Stoß in die richtige Richtung - und das Talent kam zum Vorschein. Darum also errang jedes einzelne Exemplar aus der Kohorte der »Waisen« in seiner Laufbahn so durchschlagende Erfolge! Und darum war ihnen allen so viel daran gelegen, Cunningham von ihren Karrieresprüngen zu berichten - so attestierten sie ihre Prosperität und daß die richtige Wahl getroffen war!
Und es verstand sich von selbst, daß all diese Genies ihrer alten Kommune gegenüber absolute Loyalität bewiesen, es war ihre Familie, die einzige, die sie je hatten - sie war es gewesen, die sie vor der grausamen Welt in Schutz genommen, gehegt und gepflegt und ihnen ihr unverwechselbares Ich entdeckt hatte. Fast viertausend in alle Welt verstreute Genies - fürwahr eine stattliche Familie! Es lebe Cunning- ham, es lebe die »Führernatur«! Aber nein, Moment .